Formel 1:Abgefahren

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Wie überlegen Lewis Hamilton zurzeit ist, erweist sich in Monaco nach einem Fehler bei der Reifenwahl. Er gewinnt auch mit verbrauchten Pneus. Ferrari bleibt nur noch Selbstironie.

Von Philipp Schneider, Monaco

Charles Leclerc hebt die Hand, die er in entspannter Pose auf seinem rechten Oberschenkel abgelegt hat. Dann schüttelt er sie einmal heftig durch, als hätte die Hand nicht auf seinem Oberschenkel, sondern auf einer Herdplatte gelegen, die jemand auf die höchste Kochstufe gestellt hat. "Entschuldigung", sagt der außerhalb seines Rennwagens stets äußerst höfliche Charles Leclerc. "Da war eine Spinne. Und ich hasse Spinnen."

Nun könnte man ja meinen, dass dieser Besuch einer Spinne im Motorhome der Scuderia Ferrari wie bestellt wirkte. Die Spinne, die übrigens winzig gewesen sein muss, war immerhin hochgekrochen an Leclerc exakt in dem Moment, als der junge Monegasse gefragt worden war, weswegen er eigentlich seinen Ferrari vor der Zieldurchfahrt hatte abstellen müssen bei seinem Heim-Grand-Prix. Die Spinne hatte aber niemand bestellt. Denn wenn sich eines mit Gewissheit sagen lässt über den seit dieser Saison von Mattia Binotto geführten Rennstall, dann dies hier: Binottos Scuderia ist zwar nicht länger wettbewerbstauglich, war Mercedes auch im sechsten Rennen chancenlos hinterhergefahren. Aber die Truppe aus Maranello nimmt das alles mit viel Humor und gibt ihr an vielen Stellen zu beobachtendes Unvermögen erfrischend transparent zu.

"Jetzt ist sie weg", sagt Leclerc. - "Sie?", fragt Binotto, der daneben sitzt. "Ja, eine sie. Ich bin mir sehr sicher, dass es eine sie war." Und dann lachen Leclerc, Binotto und auch Sebastian Vettel am Ende eines Wochenendes, das für Ferrari nach dem desaströsen Samstag noch eine glückliche Wendung genommen hatte. Das Auto, sagt Leclerc, als er nicht mehr lachen muss und die Frage ehrlich beantwortet, sei sehr schwierig bis unmöglich zu fahren gewesen. "Der Schaden war zu groß. Wir haben noch versucht, den Frontflügel zu tauschen. Aber der Verlust an Abtrieb war zu stark."

Besagten Schaden hatte sich Leclerc bei einem Überholversuch zugezogen, weil er das Rennen mit viel Risiko hatte angehen müssen. Weil er von Startplatz 15 losrollen musste. Und gestanden hatte er so weit hinten, weil sich Binottos Strategen während der Qualifikation schlimm verschätzt hatten. Sie dachten, seine im Q1 vorgelegte Zeit sei ausreichend für die Teilnahme am Q2. Anstatt Leclerc für einen weiteren Versuch auf die Strecke zu schicken, ließen sie ihn in der Garage warten. Seine Zeit reichte nicht. Einem Team, das um die Weltmeisterschaft fährt, passiert so etwas nicht. Fährt Ferrari noch um den Titel?

Es war sein „härtestes Rennen“, sagt Hamilton, der seinen Sieg hier dem verstorbenen Niki Lauda widmet. (Foto: Andrej Isakovic/AFP)

Zum ersten Mal in dieser Saison wirkte Vettel nach der Zieldurchfahrt halbwegs positiv gestimmt. Er wusste ja, dass er das Maximale herausgeholt hatte aus seiner Ausgangsposition. Von Platz vier war er ins Rennen gestartet, er wurde noch Zweiter. Er überholte Max Verstappen und Valtteri Bottas, obwohl in Monaco das Überholen so gut wie unmöglich ist. Aber Vettel wusste die speziellen Umstände dieser Überholvorgänge realistisch einzuordnen. "Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir ein Geschenk erhalten haben", sagte er.

Auspacken durfte Vettel sein Präsent in jenem Moment, als Verstappen Bottas gegen die Boxenmauer drückte. Beide Fahrer hatten die Gunst einer frühen Safety-Car- Phase, die Leclerc mit seinem Crash während eines Überholversuchs verursacht hatte, für einen Reifentausch genutzt. Die Kollision von Verstappen und Bottas setzte eine aus Vettels Sicht grandiose Kausalität in Gang. Verstappen erhielt eine Fünf-Sekunden-Strafe, die ihn in der Endabrechnung von Platz zwei auf vier verschob. Und Bottas musste wegen des Kontakts erneut seine Reifen tauschen und sortierte sich hinter Vettel wieder ein.

Und damit zu Mercedes und dem eigentlichen Grund, weswegen sie sich bei Ferrari große Sorgen machen müssen. In Monaco hat die Mannschaft von Toto Wolff einen strategischen Fehler begangen. Oft passiert ihr das nicht. Dass es trotzdem gereicht hat für den sechsten Sieg im sechsten Rennen, das hat Mercedes den überholfeindlichen Bedingungen der Strecke zu verdanken. Und dem sagenhaften Talent von Lewis Hamilton. "Er hat uns mit seiner Fahrkunst gerettet", sagte Wolff.

Mit diesen Gummis rutschte er sogar in der langsamsten Kurve: Lewis Hamilton lässt sich nach 68 Runden auf denselben Medium-Reifen feiern. (Foto: Mark Thompson/Getty Images)

Nach dem Boxenstopp aller Piloten in der frühen Safety-Car-Phase, fand sich Hamilton in der unglücklichen Situation wieder, als einziger Fahrer aus der Spitzengruppe auf den weicheren Medium-Reifen rollen zu müssen und nicht auf den harten Gummis, die sozusagen eine Haltbarkeitsgarantie bis zur Zielflagge versprachen. 68 irre Runden lang maulte und jammerte der fünfmalige Weltmeister über diese Fehlentscheidung. Man mochte ihm das nachsehen. Zumal ihm in Verstappen der zweifelsfrei größte Hasardeur der Formel 1 am Heck hing. Hamiltons Renningenieur Peter Bonnington redete unermüdlich ein auf Hamilton, er solle sich beruhigen, er sei mit der richtigen Strategie unterwegs. Das war er natürlich nicht. Aber verrät der Vater dem Sohn, dass er eine Narbe am Bein zurückbehalten wird, wenn der gerade erst von Fahrrad gestürzt ist, weint und blutet?

Also raste Hamilton immer weiter um den Port Hercule, unter seinem Chassis zerfielen die Reifen, er rutschte sogar in der Kurve, die in Monaco nach einem Hotel benannt ist, das gar nicht mehr da ist: in der Loews-Kurve, der langsamsten Stelle der ganzen Formel 1. Kurz vor Schluss berührte Verstappens Red Bull seine Hinterräder, aber dann war Hamilton gerettet. "Es war das härteste Rennen, das ich jemals gefahren bin", sagte er. Und am Abend veröffentlichte Mercedes ein sehr spezielles Video.

Zu sehen ist James Vowles, der Chefstratege von Mercedes. Vowles sitzt hinter seinem Laptop und blickt in die Kamera. Er sagt: "Im Nachhinein ist es recht klar: Mit den härteren Reifen hätten wir dasselbe Ergebnis erzielt. Nur mit weniger Stress." Pause. "Wir wollten es ein bisschen spannend machen!" Plötzlich stürmt Hamilton in den Raum, in den Händen hält er eine Schampusflasche, er spritzt Vowles nass, ruft: "Ihr habt mir diese Medium-Reifen für 68 Runden gegeben!" Dann lacht er.

Das Video mag halb authentisch, halb orchestriert sein. Vielleicht ist es auch völlig authentisch - letztlich ist diese Frage unerheblich. Entscheidend ist, dass hier ein Rennstall eine Art Abendprogramm für seine Fans geschaffen hat, um den Unterhaltungswert der Formel 1 zu steigern. Der Humor bei Ferrari enthält Spuren von Selbstironie. Der bei Mercedes Spuren von Unterforderung.

© SZ vom 28.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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