FC St. Pauli:Eine Geschichte für Utopisten

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Grund zum Überschwang: Spielmacher Daniel Kofi Kyereh wirbelt mit dem FC St. Pauli die zweite Liga auf. (Foto: Oliver Hardt/Getty)

Der FC St. Pauli war im Winter noch Tabellenvorletzter der zweiten Liga, mittlerweile wird sogar über den Aufstieg geunkt. Was ist passiert?

Von Thomas Hürner, Hamburg

Neulich hatte Timo Schultz einen Auftritt im Fernsehen, was natürlich keine Seltenheit ist für den Trainer des FC St. Pauli. Außergewöhnlich war jedoch, wie vernichtend sein Urteil über das Leistungsvermögen der Kiezkicker ausfiel. Er sprach von einem Haufen von "Gescheiterten und Halbtalentierten" - und weil Schultz ein solidarischer Zeitgenosse ist, hatte er sich bei diesem Rundumschlag selbst gar nicht erst ausgenommen.

Freunde des schönen Spiels müssen sich jetzt aber keine Sorgen machen. Es ist noch alles in bester Ordnung beim derzeit aufregendsten Team der zweiten Bundesliga, das aktuell auch die Feuilletons der Republik verzücken würde, wenn die Feuilletons denn Interesse am Stil und an der beachtlichen Erfolgsserie eines Zweitligisten hätten. Schultz' Ausführungen sind vielmehr Teil einer Dokumentation des NDR, die von ein paar Rumpelfußballern und der Kraft eines Viertels handelt. Es geht darin um eine Zeit, als der Hamburger Stadtteilverein kurz vor der Pleite stand. Und was es damals zur Rettung brauchte, war eine fast schrullige Pointe: St. Pauli, gerade in die Drittklassigkeit entschwunden, rauschte 2005 bis ins Halbfinale des DFB-Pokals und sammelte dadurch jene überlebensnotwendigen Prämien ein, die zusammen mit Spenden aus der Anhängerschaft das Fortbestehen des Kiezklubs sicherten.

Im vergangenen Winter plagten den Verein noch existenzielle Sorgen

Der heutige Chefcoach Schultz war damals als rustikaler Mittelfeldspieler dabei, als einer der "Gescheiterten und Halbtalentierten", die schließlich zu anerkannten Kiezhelden wurden. Und wer weiß? Vielleicht arbeitet er momentan daran, bald wieder als Protagonist in einem kleinen Dokument norddeutscher Zeitgeschichte verewigt zu werden.

Es vollzieht sich jedenfalls schon wieder eine Geschichte auf dem Kiez, an die vor einigen Monaten nicht mal Utopisten geglaubt hätten: St. Pauli, das vor der Saison einen gewaltigen Umbruch hinter sich hatte, torkelte in der Hinrunde wie ein betrunkener Seemann durch die Niederungen der zweiten Liga, das rief auch existenzielle Sorgen hervor in Zeiten von pandemiebedingten Umsatzeinbrüchen. Auch das Experiment mit Schultz schien zu misslingen. Entweder der neue Trainer verstand seine Mannschaft nicht - oder die Spieler nicht den Fußball ihres Trainers. So oder so, St. Pauli stand zum Weihnachtsfest 2020 auf dem vorletzten Tabellenplatz.

An dieser Stelle greifen üblicherweise die Mechanismen der Branche, Schultz aber durfte als Trainer weitermachen. Und so wirkt die Hinrunde vor der Partie bei Fortuna Düsseldorf an diesem Mittwoch (18.30 Uhr) inzwischen wie eine finstere Episode, die längst vergessen ist.

St. Pauli ist mittlerweile von Platz 17 auf Platz sieben vorgerückt, als klarer Spitzenreiter der inoffiziellen Rückrundentabelle. Wie konnte das passieren? Schultz nannte vor der Reise nach Düsseldorf drei Hauptgründe für den Lauf: "Die Entwicklung der Mannschaft, Selbstvertrauen und die nötige Portion Spielglück" - was ein Trainer halt so sagt, wenn er seine eigene exponierte Stellung etwas schmälern will. Tatsächlich war es aber auch Schultz, ein Paulianer durch und durch, der im Winter einige unpopuläre Entscheidungen treffen musste. Der langjährige Stammtorwart und Publikumsliebling Robin Himmelmann musste gehen, dem einstigen Kapitän und Abwehrchef Marvin Knoll bleibt nur noch die Rolle eines ergänzenden Kadermitglieds.

In Hamburg wird bereits über den Aufstieg St. Paulis gewitzelt

Schultz hatte damit ein bewährtes, aber auch starres Gefüge aufgebrochen, was in einem der jüngsten Teams der Liga ungeahnte Offensivpotenziale freisetzte. Nach einer Systemumstellung spielt St. Pauli im Mittelfeld mit einer Raute, in der zwei dribbelstarke Akteure, Eigengewächs Finn-Ole Becker und der Uruguayer Rodrigo Zalazar, die Halbpositionen besetzen. Sie fungieren als unermüdliche Zubringer für Spielmacher Daniel-Kofi Kyereh sowie für Guido Burgstaller und Omar Marmoush, die seit dem Winter das treffsicherste Sturmduo der zweiten Liga bilden. Burgstaller war zwar schon im Sommer als Königstransfer vom FC Schalke verpflichtet worden, allerdings fast die gesamte Hinrunde verletzt ausgefallen. Der so dynamische wie spektakuläre Marmoush hingegen war Teil einer winterlichen Transferoffensive: neben dem aus Wolfsburg geliehenen Ägypter kam in Dejan Stojanovic auch ein neuer Torwart, der einen stabilisierenden Einfluss auf das Gesamtgefüge hat.

Auch durch die gelungene Integration der Zugänge hat die Mannschaft ein nicht nur gehobenes, sondern auch ein ansehnliches Niveau erreicht, sie ist stilistisch flexibel und kann bei Rückschlägen die nötigen Kräfte mobilisieren. Die Zutaten für die nächste filmreife Geschichte? In der Hansestadt wird bereits geunkt, der Kiezklub habe jetzt bessere Chancen im Aufstiegsrennen als der auf Rang vier geführte Hamburger SV. Mit einem Sieg in Düsseldorf könnte St. Pauli vorläufig bis auf drei Punkte an den verhassten Stadtrivalen heranrücken.

Trainer Schultz sagte jedenfalls neulich, die Mannschaft von heute könne "deutlich besser kicken" als die Helden von 2005, die den Kiezklub einst vor dem Ruin bewahrten.

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