Essay aus dem SZ-Rückblick:Sieger in der Parallelwelt

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Die deutsche Mannschaft hat bei der Weltmeisterschaft in ihrer eigenen Welt gespielt: Sie stürmte mit Leichtigkeit und Mut. Zeitgleich fand eine 4-5-1-WM statt, bei der Kompaktheit den Wert an sich darstellte. Irgendwann mussten beide aufeinander prallen.

Christof Kneer

Maximiliano Rodríguez hatte nicht viel Zeit, über Alternativen nachzudenken. Das ist auch mit dem Abstand eines halben Jahres noch sehr zu begrüßen, denn es wäre ja nicht auszudenken gewesen, hätte Rodríguez kurz innegehalten. Zum einen wäre der Ball dann vermutlich längst weg gewesen, irgendeiner dieser laufstarken Mexikaner hätte den kleinen Moment der Kontemplation bestimmt genutzt und Rodríguez den Ball entwendet. Aber selbst wenn nicht: Was wäre passiert, wenn Rodríguez nachgedacht hätte?

Wahrscheinlich hätte er gedacht, huch, geht ja gar nicht, dass ich so einen Ball direkt nehme. Er hätte ihn weitergeleitet, oder er hätte verkrampft draufgehauen und womöglich einer der Großleinwände in der Leipziger Innenstadt einen Streifschuss verpasst. "Ich hätte die Tribüne oder in die Wolken treffen können", erkannte Rodríguez bestens gelaunt, als er sein Kunstwerk deuten sollte. "So was gelingt dir einmal in tausend Fällen."

Man darf sehr dankbar sein für dieses eine Mal, das im WM-Achtelfinalspiel zwischen Argentinien und Mexiko zur Aufführung kam. Es war ein entschieden unentschiedenes Spiel - bis zu jenem Moment, in dem Rodríguez nichts dachte.

Es war die 98. Minute, Rodríguez sah diese Flanke von Sorín fliegen, er stoppte den Ball kurz mit der Brust und schickte ihn dann in eine Flugkurve, die die Physik noch gar nicht erfunden hat. Der Ball flog auf wundersamer Bahn einen ewigen Augenblick lang, vorbei am mexikanischen Torwart Oswaldo Sánchez. Es war das 2:1 für Argentinien. Es war ein lebenswichtiges Tor für diese WM.

Maximiliano Rodríguez hat dieser WM ein schönes, vielleicht das schönste Tor geschenkt und nebenbei das Viertelfinale gegen Gastgeber Deutschland, ohne das sich diese WM nicht mehr denken ließe.

Was würde der WM nicht fehlen ohne dieses Spiel: dieses umkämpfte Match mit dem späten Klose-Tor; das legendäre Elfmeterschießen mit dem noch legendäreren Lehmann-Spickzettel; die Turbulenzen danach, als der Argentinier Cufré den Deutschen Mertesacker zu Boden trat, weil er der Ansicht war, es handle sich hierbei um den Deutschen Borowski; oder als der Deutsche Frings den Argentinier Cruz die Faust spüren ließ, wobei bis heute nicht geklärt ist, ob das wirklich Frings und ob das wirklich eine Faust war, wobei das italienische Fernsehen das ja gesehen haben will und bei der Fifa Meldung machte, worauf Frings dann - gegen Italien - gesperrt war, was wiederum ...

Der auslösende Schuss

Mit einem halben Jahr Abstand wirkt es so, als habe die WM überhaupt erst dank Maxi Rodríguez Fahrt aufgenommen. Vielleicht hat es erst dieses auslösenden Schusses bedurft, um dieses Turnier endlich ein bisschen zuzuspitzen.

Bis zu diesem Zeitpunkt haben 82 Millionen Menschen dieses Turnier für dramatisch gehalten, deutsche Menschen, die es kaum fassen konnten, mit welchem Mut und welcher Leichtigkeit ihre Landsleute durch dieses Turnier flitzten. Wer aber zufällig nicht zu diesen 82 Millionen gehörte, der staunte zwar ebenfalls über den erfrischenden Auftritt der Gastgeber - davon abgesehen aber fiel es dem Rest der Welt eher schwer, sich einen Reim auf dieses Turnier zu machen.

Man kann es nicht dem Gastgeber anlasten, dass es im Jahr 2006 im Grunde zwei Weltmeisterschaften in Deutschland gegeben hat. Es gab die eine, die deutsche WM; das war jenes Turnier, das sich einen Sommer lang ums Land verdient machte, weil der Fußball von Jürgen Klinsmanns Mannschaft etwas ausstrahlte, was über den Sport hinauswies.

Wie ein einziger großer Klinsmann

Das Land hat sich liebend gerne mitreißen lassen von einer Elf, die versuchte, ihre Mängel nicht zu verwalten, sondern offensiv zu beheben. Die Mannschaft hat die freundliche Vorrundengruppe mit den Aufwärmgegnern Costa Rica, Polen und Ecuador genutzt, um Automatismen zu schärfen und sich in Stimmung zu spielen. Dann ist sie im Achtelfinale über Schweden hergefallen wie einst der Stürmer Klinsmann über die gegnerischen Verteidiger, und überhaupt wirkte die DFB-Elf wie ein einziger großer Klinsmann.

So wie Klinsmann in seiner aktiven Karriere oft besser war als die Summe seiner Einzelbegabungen, so spielte auch diese Mannschaft besser, als sie eigentlich konnte. Heimvorteil, Euphorie und Klinsmanns martialische Motivationstiraden ("Wir müssen den Gegner durch die Wand hauen") summierten sich mit den Taktikvorgaben des Assistenten Joachim Löw ("höggschde Konzentration") zu einer Eigendynamik, der Zuschauer und Konkurrenten schwer widerstehen konnten - was auch an der anderen, der zweiten WM lag, die zeitgleich in Deutschland ausgetragen wurde.

Die zweite WM war jene, an der die deutsche Mannschaft nicht direkt beteiligt war, und diese WM brauchte Tore wie jenes von Maxi Rodríguez dringend. Diese WM entwickelte auch eine Eigendynamik, aber es war keine, die die Leute von den Sitzen riss.

Es war jene WM, deren verdienter Weltmeister Italien hieß und deren Star der Italiener Fabio Cannavaro war - ein Spieler, dessen Kreativität im kunstvollen Killen gegnerischer Kreativität besteht. Im Halbfinale gegen Deutschland hat Cannavaro mehr Zweikämpfe gewonnen, als es überhaupt gab, er ist bei Kopfbällen fünf Meter hoch gesprungen, und er hat Pässe vorhergesehen, von denen nicht einmal die Passspieler wussten, dass sie sie gleich spielen würden.

Er war der perfekte Spielverhinderer und als solcher die perfekte Figur dieser WM, die allenfalls als 4-5-1-WM in die Geschichte eingehen wird. Das war jene unheilige Zahlenkombination, die so manches Spiel abwürgte, bevor es begann.

Über weite Strecken wirkte der Fußball wie eine Sportart, die mal wieder eine taktische Revolution gebrauchen könnte: In so hochwertigen Systemen begegneten sich die Rivalen, dass sie darüber vollends das Spiel blockierten.

Oft verrammelten je fünf Mittelfeldspieler so militant die Räume, dass die armen Stürmer vorne völlig allein blieben mit ihren großen Namen. Der Engländer Rooney? Zu spät fit und dann ein verzweifelter Einzelkämpfer. Der Niederländer van Nistelrooy? Gut begonnen, dann von Trainer van Basten aus dem Team genommen. Der Franzose Henry? Schwer begabt wie immer, aber vom Nachschub meist abgeschnitten durch das Defensivsystem von Trainer Domenech. Und Ronaldo? Ach, Ronaldo. So rund war er, dass man ihn zur Not als Spielball hätte verwenden können. Immerhin, der alte Genius war noch gut genug für drei Tore, womit er mit 15 WM-Toren Gerd Müllers Rekord (14) brach.

Wahrscheinlich ist selten eine WM so sehr auf den Trainerbänken entschieden worden wie diese. Wenn Kompaktheit zum Wert an sich wird, dann sind vor allem jene für Siege oder Niederlage verantwortlich, die die Mannschaften zu mehr oder weniger kompakten Gebilden zusammenbauen. Es hat viele Trainerverlierer gegeben bei dieser WM, allen voran Carlos Alberto Parreira, dem es gelang, aus Brasilien eines der groteskesten Teams der Geschichte zu machen.

Parreira ignorierte die Zwänge der Biologie im Hochleistungssport und vertraute jenen alten Helden, die längst mehr alt als Helden waren. Am Ende kam ein Team dabei heraus, das so prominent war, dass es seriöse Chancen hätte, ins Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud aufgenommen zu werden. Leider spielte es auch so. Oder das England von Sven-Göran Eriksson: Es wirkte schal und spielte ängstlich. Oder die Niederlande von Marco van Basten: Sie spielte Zweckfußball wie nie zuvor, stritt aber wie immer. Oder das Argentinien von José Pekerman: Spielte eine großartige Vorrunde, bis der Trainer die Mannschaft im Viertelfinale gegen Deutschland demütigte. Er wechselte Regisseur Riquelme aus und setzte ein fatales Signal: Er wollte nur noch verwalten, er traute seiner eigenen Mannschaft nicht.

Dies war der Punkt, an dem beide Turniere wieder zusammenfanden: Je enger die Trainer aus aller Welt ihren Teams die Fesseln anlegten, umso abenteuerlustiger wirkte das, was Klinsmann tat. Er ließ seine Mannschaft stürmen und verließ das Turnier als der große Trainergewinner - obwohl bis heute niemand weiß, ob Klinsmann wirklich zum Strategen taugt. Im Halbfinale wurde er vom italienischen Fuchs Marcello Lippi überlistet, dessen Mannschaft kunstvoll bewies, dass Tempofußball kein Wert an sich ist. Italien siegte mit Rhythmuswechseln, die die deutsche Elf überforderten.

Am Ende war es ein Turnier mit folgendem Titel: Jürgen Klinsmann gegen den Rest der Welt. Und der Rest der Welt hat am Ende gewonnen.

© Diesen Text und andere Essays finden Sie in der Sonderausgabe der <i>Süddeutschen Zeitung </i>zum Jahr 2006. Der Jahresrückblick ist vom 9. Dezember an im Handel erhältlich, der Preis beträgt fünf Euro. - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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