Eröffnung:Ein wichtiges Spiel - wie viele andere auch

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Jens Lehmann bestreitet seine WM-Premiere ausgerechnet in München, das einmal als feindlicher Ort galt.

Philipp Selldorf

Über Jens Lehmann, 36, hieß es vor ein paar Jahren, dass er "nur noch das Abziehbild eines Nationaltorwarts" sei, und es war kein ihm feindlich gesonnenes Revolverblatt, das diese Gemeinheit verbreitete, sondern eine Nachrichtenagentur, der es ganz ernst war mit ihrer Botschaft.

Zu jener Zeit führte Lehmann eine erbarmungswürdige Existenz als Fußballer: Das Publikum der Nationalmannschaft verachtete ihn leidenschaftlich, und an seinem Arbeitsplatz in Dortmund ging es ihm nicht besser. Dort traf ihn der Hass der Borussen-Fans mindestens genauso leidenschaftlich, denn man betrachtete ihn als Schalker Erbfeind.

Lehmann hat auch das verwunden, er ist belastbar, und mit Kränkungen hat er viel Erfahrung. Er hat sie auf jeder Station seines Schaffens erfahren. In Schalke, Mailand, Dortmund, London - und im Nationalteam sowieso. Seine Karriere hat sich dabei als extrem strapazierfähig erwiesen, obwohl es genügend Momente gab, da sie nur für Beileidsbekundungen taugte.

"Werden Sie nervös sein?"

An einen solchen Moment wurde Jens Lehmann am Mittwoch bei der Pressekonferenz in Berlin erinnert. Ein asiatischer Reporter stellte den deutschen Torwart hinsichtlich der Eröffnungspartie gegen Costa Rica am Freitag in München vor die Wahl: "Herr Lehmann, haben Sie Angst? Oder werden Sie nervös sein?"

Offenkundig hat sich die Geschichte, die Jens Lehmann vor einem Jahr in München widerfuhr, im globalen Fußballdorf herumgesprochen; tatsächlich bildete sie ja einen weiteren Höhepunkt im großen deutschen Torwartkrieg (2004 - 2006 n.Chr.).

Die Rede ist von jenem vertrackten Spielchen zur Einweihung der Allianz-Arena, bei dem Deutschland von Bayern und Jens Lehmann vom Münchner Publikum gedemütigt wurden, weshalb sich das Spielchen zur Kontroverse entwickelte.

Zunächst beklagte sich Oliver Bierhoff über die unfairen Münchner Zuschauer und den ignoranten Gastgeber FC Bayern, dann beklagte sich dessen Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Rummenigge über Oliver Bierhoff ("soll sich um seinen eigenen Mist kümmern"), und schließlich klagte auch Jens Lehmann: über seinen eigenen, komplett missratenen Auftritt.

Alle haben sich geirrt.

Nicht nur Franz Beckenbauer erschien es damals unvorstellbar, dass ein Jahr später Lehmann an eben diesem Ort beim WM-Eröffnungsspiel anstelle von Oliver Kahn im Tor stehen könnte. Alle haben sich geirrt.

Selbst Beckenbauer und der Herr aus Asien, denn Lehmann behauptet glaubhaft, er sei weder nervös noch ängstlich vor seiner WM-Premiere. Auch in den Tagen vor dem Start des Turniers gibt der Torwart aus London immer noch ein bemerkenswert gelassenes Bild ab, ein paar - eingestandene - Überheblichkeiten in den Testpartien eingeschlossen. Das liegt wohl auch daran, dass er im Laufe einer Karriere voller Tücken und Härten die Strategie entwickelt hat, beunruhigende Momente aus seinem Denken zu verbannen oder auszuklammern.

Für sein erstes Spiel als Nationaltorwart bei einem großen Turnier formuliert Lehmann daher eine Formel, die nichts Persönliches, nur Pragmatisches enthält: "Es ist ein wichtiges Spiel", sagt er zwar, und verweigert doch die Anerkennung des Außergewöhnlichen, denn er fährt fort: "Wie viele andere auch." Er habe noch nicht darüber nachgedacht, dass er nun sein erstes WM-Spiel bestreite, behauptet er noch. Das kann man glauben, muss man aber nicht.

München als Ort der Herrschaft seines Widersachers Oliver Kahn kann ihn auch nicht mehr schrecken. Erstens herrscht Friede zwischen den Sonderlingen, und zweitens glaubt Lehmann, dass die verbliebenen Kahnianer sich verlieren werden in der Menge des Publikums, "aufgrund der Ticketvergabe in West-, Ost-, Süd- und Norddeutschland".

Eingedenk der Unterstützung bei den Testspielen in Freiburg, Leverkusen und Mönchengladbach kann er sich auch nicht vorstellen, "dass die Begeisterung durch ein paar Münchner Fans, die vielleicht zugegen sein sollten, gestört werden kann". So könnte ausgerechnet in München Jens Lehmanns Beziehung mit dem deutschen Publikum eine triumphale Versöhnung erfahren.

© SZ vom 8.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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