Eine etwas andere Meisterschaft:Mit breitem Pinsel

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Der im Vorbeigehen eingesammelte 30. Meistertitel stillt den Hunger des Teams nicht. Trainer Flick dankt in der surreal nüchternen Nacht von Bremen seinem fast vergessenen Vorgänger Niko Kovac.

Von Ralf Wiegand

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(Foto: Martin Meissner/AFP)

Nur kurz locker in der Hüfte: Die Feierlichkeiten nach dem Abpfiff der Partie gegen Bremen fielen im leeren Stadion umständehalber gedämpft aus.

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(Foto: Stuart Franklin/Getty Images)

Für wen soll man auch eine Riesenwelle machen, wenn sie nicht zurückschwappt? Auch die sonst obligatorische Weißbierdusche fiel aus.

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(Foto: Stuart Franklin/Getty Images)

Es war eine außergewöhnliche Saison, die für Hansi Flick als Co-Trainer begann, bis er im Herbst als Chef-Trainer auf Zeit berufen wurde - und die er nun als Meistertrainer beenden wird.

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(Foto: Sven Hoppe/dpa)

"Irgendwie hat man sich daran gewöhnt", findet Hansi Flick, und meint nicht die Titel, sondern die Geisteratmosphäre. Vielleicht haben sich aber auch die Münchner gewöhnt an die Meisterschaften, die Leopoldstraße bleibt an diesem Abend verwaist.

Der Sonderflughafen Oberpfaffenhofen, auf dem der FC Bayern München als alter und neuer deutscher Fußballmeister am Mittwoch landete, ist wie gemacht für den Sonderspielbetrieb Bundesliga. Der Klub hat den Platz schon früher gerne mal genutzt, wenn er etwa einen potenziellen Zugang diskret ins Land schleusen wollte. Nun, in Corona-Zeiten, wirkt die Flughafen-Werbung wie eine Verheißung: Sie verspricht eine "diskrete, schnelle und sichere Abfertigung", ideal also fürs voll auf Social Distancing ausgelegte Fußballerleben. Denn auch nach vollbrachtem Gewinn der 30. Meisterschaft, der achten in Serie, gilt für die Münchner Titelträger: Bitte nicht anfassen! Oder wie Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge resümierte: "Eine komische Meisterschaft."

Es war kurz vor Mitternacht am Dienstag, als sich die Türen der roten Busse vor dem Weserstadion schlossen, als Letzter war wie immer Thomas Müller hineingeschlüpft. Auf der anderen Straßenseite standen einige Dutzend Menschen, sie schwiegen, Polizisten mit Mundschutz observierten die Szene. Eskalationen wie Beifall oder Bravo-Rufe passierten nicht. Die Meister-Krönung in Bremen wirkte wie eine gespielte Aufführung von Stille Nacht.

Der Inszenierung, welche die Bayern schon in normalen Zeiten fast schmerzhaft perfekt beherrschen, fehlte nun jegliche Spontaneität. Eine mit breitem Pinsel hingeschwungene Ziffer 8 wurde mit Schlusspfiff im Bremer Weserstadion, wo die Bayern gerade 1:0 gewonnen hatten, enthüllt wie ein neues Denkmal bayerischer Unbesiegbarkeit. Die 8 kroch aus dem Karton mit den spontan vorbereiteten Meister-T-Shirts, sie zierte (neben der Meisterschale als Avatar) sofort die Social-Media-Accounts des Klubs ("Mei8ter"), und als Twitter-Perle hatten die PR-Profis die Spielerporträts um die Acht drapiert, 11 400 Likes zweieinhalb Stunden nach Abpfiff.

Die Bayern sind eben nicht nur Fußball-Meister, sondern auch Corona-, Smartphone- und Fanshop-Meister - dort waren die Event-T-Shirts in den gängigen Größen Mittwochmorgen nur noch "in Kürze lieferbar". Nur die Weißbierbauchvariante 3XL galt als "sofort lieferbar", neben allem anderem, worauf sich eine 8 drucken lässt. Wie lange die Bayern wohl schon nicht mehr am Titel zweifelten?

Eine Meisterfeier ohne Fans ähnelt in einem leeren Stadion eher einem Selbstgespräch als einer Party

Trainer Hansi Flick jedenfalls war der Ansicht, dass zumindest im vergangenen Herbst "niemand" gedacht hätte, "dass es so ausgeht". Die Bayern hatten nicht nur den Corona-Bruch noch vor sich, sondern auch einen bereits fast vergessenen Trainerwechsel hinter sich. Flick dankte am Dienstagabend seinem Vorgänger Nico Kovac ausdrücklich dafür, "dass er auf die Idee gekommen ist, mich nach München zu holen". Kovac hatte sich das zwar anders vorgestellt, Flick sollte ihm als Co-Trainer in die Spur helfen. Jetzt verwaltet der ehemalige Assistent die Gier der Bayern, die unter Kovac verloren gegangen war.

Der im Vorbeigehen eingesammelte Titel von Bremen stillt den Hunger der Münchner nicht, satt wird man nie, wenn man der FC Bayern ist. "Hier sind die Ziele immer hoch", sagte Flick, erwähnte das Pokalfinale gegen Leverkusen und natürlich die Champions League, die er als nicht planbares Ereignis einstuft. Ein Finalturnier, eine Art Ersatz-Europameisterschaft wird es sein mit acht Mannschaften im August, aber man kann davon ausgehen, dass sich die Bayern ab sofort dafür justieren.

Ein Verein, der so vollkommen ist, dass das Umgebungslicht des Außenspiegels am Mannschaftsbus bei Dunkelheit das Vereinslogo auf den Asphalt projiziert, überlässt nichts dem Zufall. In der Rückschau auf die Saison, in der Flick die Bayern mit sieben Punkten Rückstand auf Platz sieben liegend übernommen hatte, erwähnte der Trainer als einen der Wendepunkte die erste Corona-Absage des Spiels im März bei Union Berlin. "Wir haben sofort begonnen, zu trainieren", sagte er, zu einem Zeitpunkt also, als niemand wusste, ob überhaupt jemals wieder gespielt werden würde. Flick verband das mit dem Dank an die Fitnesstrainer. Zuvor hatte er bereits die von den Vereinsgourmets als destruktiv empfundene Spielweise seines Vorgängers verändert, "wir wollten offensiver spielen", sagte Flick. Anfangs sei das noch fehlerbehaftet gewesen, aber jetzt funktioniere die Viererkette tadellos. Daneben erwähnte er das Trainingslager in Doha als optimal - "das waren die drei Steps, die wir gemacht haben". In den außergewöhnlichsten Umständen, die der Fußball je erlebt hat, sind die Bayern deshalb wieder die gewohnte Konstante: Man weiß nicht, wie sie überhaupt noch mal ein Spiel verlieren könnten.

Das in Bremen hätten sie zumindest beinahe nicht gewonnen. Manuel Neuer rettete den knappen Sieg, den Robert Lewandowski in der 43. Minute mit seinem Tor zum 1:0 eingeleitet hatte, mit einer feinen Parade in der letzten Minute. Dass Alphonso Davies schon nach 20 Minuten des Feldes hätte verwiesen werden müssen, wenn der Videoschiedsrichter seinen Job gemacht hätte, interessierte Flick dabei nicht: "Wir haben gerade den Titel gewonnen, ich hake dieses Spiel ab."

So ging es umstandslos zum festlichen Teil über. Eine Meisterfeier ohne Fans - von "Sause" berichtete die Homepage der Bayern sogar - ähnelt in einem leeren Stadion allerdings eher einem Selbstgespräch als einer Party. Der Klangteppich fehlt, der sonst das schüchterne "Juhu" der Spieler verschluckt, von denen nun jeder einzelne auf den persönlichen Grad freudiger Erregtheit überprüft werden kann. Freuen die sich wirklich? Oder alles nur Routine? "Jetzt lach doch mal", hat die Tante früher bei solchen Gelegenheiten hinterm Fotoapparat gerufen. Als Flick, verkleidet mit den neuen Meisterdevotionalien und einsam abgestellt vor der Videokonferenzkamera, von "Freude pur" sprach, hätte Tantchen auch gerufen: Jetzt lach doch mal, Hansi.

Für Flick ist es der erste Titel als Cheftrainer der Bayern, die obligatorische Weißbierdusche "hätte ich gerne in Kauf genommen", sagte er; Freude pur eben. In Aussicht stand jedoch nur ein Bourbon Cola mit Co-Trainer Hermann Gerland an der Hotelbar, für ihn selbst allerdings "Bourbon Cola light", präzisierte Flick.

Alles sehr gebremst, umständehalber. Die Abwesenheit von Publikum bei gleichzeitiger Erwartbarkeit des sportlichen Ausgangs ist eine toxische Mischung. "Es ist natürlich ein bisschen kompliziert, ohne Zuschauer zu feiern", sagte Robert Lewandowski. La Ola vor leerer Tribüne, exklusiv für den mitgereisten Vorstand, keine Feier auf dem Marienplatz. Abertausende Meister-Leibchen werden wohl als Schlafshirts enden. "Hoffentlich bleibt es die einzige solche Saison. Die Atmosphäre fehlt, das Adrenalin", sagte Flick, aber auch: "Irgendwie hat man sich daran gewöhnt."

In der stillen Nacht von Bremen parkte später der Mannschaftsbus mit dem Zauber-Außenspiegel eingekästelt von Absperrgittern wie ein abgestürztes Ufo vor der Tür, Schaulustige hier: 0. Was drinnen abging? Geschlossene Gesellschaft. Kein Spieler kam raus, um mal eine zu rauchen, was seit Mario Basler aus der Mode gekommen ist, niemand grölte schmutzige Lieder aus dem Fenster, was seit Mario Basler aus der Mode gekommen ist, niemand machte sich auf die Suche nach einer konspirativen Bar, was seit Mario Basler aus der Mode gekommen ist. Nach dem nächsten Spiel gegen Freiburg soll es eine private Feier geben, für die sich Vorstandsmitglieder Gesundheitstests unterziehen müssen und zu der die Frauen der Spieler nicht zugelassen sind. Es gibt schließlich noch was zu tun für die Bayern - die Saison bleibt noch eine ganze Weile komisch.

© SZ vom 18.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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