Doping in Deutschland:48,1 Prozent Unehrlichkeit

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Eine Studie entlarvt die Mär vom Doper als Ausnahme - fast jeder zweite deutsche Kaderathlet manipuliert.

Thomas Kistner

Es war ein schwieriges Jahr für die Funktionäre. Sie haben ihr Dachorgan Deutscher Olympischer Sportbund gegründet, das sich zu einer Art Bach-Organ entwickelt, im Geiste des Vorsitzenden Thomas Bach. Der Industrieberater konnte mit gut orchestrierten Bluffs verhindern, dass seinem mit Steuergeld alimentierten Spitzensport Gefahr durch ein Antidoping-Gesetz droht.

Und dies, obwohl nicht mal der wankelmütige Innenminister Wolfgang Schäuble glaubt, was die Funktionäre ihm und der Öffentlichkeit ständig ins Ohr flöten: Dass "wir in Deutschland" knallhart testen, das Problem andernorts schlimmer sei und die Statistik es jährlich zeige - Doping ist ein Randphänomen, im Zwei-, Drei-Prozent-Bereich. Mit der Mär, dass der ganz überwiegende Teil der Athleten sauber sei, hatte Bach auch seine Antrittspredigt im DOSB gewürzt.

"Ich dachte fünf Prozent"

Augenwischerei; das belegt schon der Fakt, dass man für ein paar Sünderlein kein millionenteures Kontrollsystem bräuchte. Tatsächlich aber ist Betrug unter deutschen Athleten weiter verbreitet, als selbst Skeptiker vom Dienst wie der Kontrolleur Helmut Pabst ("Ich dachte, fünf bis zehn Prozent") bisher annahmen.

Dies belegt eine Studie "Zur Häufigkeit des Dopings im Leistungssport" der Sportwissenschaftler Werner Pitsch, Eike Emrich und Markus Klein. In den "Leipziger sportwissenschaftlichen Schriften" legten sie ihre Ergebnisse vor, für die sie 586 anonyme Datensätze deutscher Kaderathleten ausgewertet hatten.

Der Kontakt zu den Sportlern wurde per Mail über sämtliche Athletensprecher in olympischen Sportarten erstellt, weiter ging es im Schneeballsystem: Jeder schrieb ihm bekannte Kadermitglieder an, mit der Bitte um Beteiligung sowie darum, diese Mail wieder anderen Kaderathleten zuzuleiten.

"Um das Vertrauen der Befragten zu steigern", schreiben die Wissenschaftler, habe der Sicherheitsstandard der Datenübertragung "weitgehend demjenigen im Bereich des Internet-Bankings" entsprochen.

So verlässlich anonymisiert, teilten Deutschlands Kaderathleten den Autoren Verblüffendes mit. Auf die Frage "haben Sie nicht erlaubte Dopingmittel oder -methoden zum Zwecke der Leistungssteigerung eingesetzt?" ergaben die Ergebnisse eine untere Grenze des Wahrscheinlichkeits-Intervalls von 25,8 % und eine obere von 48,1 % Dopern - Intervall deshalb, weil ja trotz aller Vorkehrungen von einer Anzahl unehrlicher Antworten auszugehen war.

51,9 Prozent sind ehrlich

Ermittelt wurde mit Hilfe einer anerkannten Fragetechnik (RRT), bei der neben direkten Anfragen Zusatzinstruktionen gegeben werden, die wiederum Wahrscheinlichkeitsrechnungen ermöglichen.

Die Autoren resümieren: "Für die gesamte sportliche Laufbahn bis zum Zeitpunkt der Befragung ist von einem Anteil von 51,9 % ehrlicher Nicht-Doper und für die aktuelle Saison von einem Anteil von 61,3 % ehrlicher Nicht-Doper auszugehen." Heißt umgekehrt: Für die gesamte sportliche Laufbahn der befragten Hundertschaften deutscher Kaderathleten ist von einem Doper-Anteil von 48,1 % auszugehen. Fast jeder Zweite.

Das deckt sich nicht annähernd mit den Behauptungen von Bach und Co., die gern regelmäßig über die sprichwörtlichen "99 Prozent sauberen Athleten" fabulieren. Auch zeigen die Zahlen in erschreckender Deutlichkeit, wie hilflos die Sportkontrolleure sind. So gab es laut Laborstatistik der Weltantidoping-Agentur Wada für 2004 nur 1,72 % positive A-Proben. Und nicht einmal die sind endgültig Dopingfälle - ärztliche Sondergenehmigungen, verfehlte B-Proben und anderes müssen abgezogen werden.

Erhellendes fand sich auch sportartenspezifisch: In Kraft- und Ausdauersparten wird weit mehr gedopt als in Mannschaftsspielen. Bei ersteren ergab sich auf die Frage, ob jemals betrogen wurde, eine Intervallschätzung von 38,1 % bis 63,0 %. Plausibel auch der Vergleich von Wettkampfniveaus: International tätige Athleten kamen auf ein Doper-Intervall von 26,7 bis 58,0 %, national konkurrierende lagen deutlich darunter.

Erklärungen liegen auf der Hand. International wird mit härteren Bandagen gekämpft. Und Individualathleten in Kraft- und Ausdauersport haben einen meist unmittelbar sichtbaren Erfolg. Teamsportler hängen auch von der Fitness anderer ab.

Für Roland Augustin, Chef der Nada, ist die Studie "alarmierend, aber keine Überraschung. Die Dimension kenne ich von meinen internationalen Kollegen". Fahnder Pabst ("Wir haben ein Riesenproblem mit der Effektivität") fordert, die 400 Trainingstests pro Monat nicht länger auszulosen, sondern die Hälfte als Zielkontrollen anzusetzen: "Es gibt Trainingsschwerpunkte, man muss zur rechten Zeit am richtigen Ort sein."

Nur müssten die Trainer ihre Trainingspläne rausrücken. Echte Kooperation aber ist schwer vorstellbar. Von Januar bis Oktober 2006, sagt Pabst, seien 7,6 Prozent der Gesuchten unauffindbar gewesen; macht rund 300 Fälle.

Mit solchen Daten gehen der frömmelnde Sport und sein Dachverband ins Neue Jahr. Im alten hinterlässt er unter anderem den Dopingfall einer 15-jährigen Tennisspielerin in Hessen: Das Mädchen wurde zwei Jahre gesperrt, Arzt oder Betreuer wurden nicht belangt. Und dazu den weltweit ersten dokumentierten Hinweis auf Gendoping, in polizeilich konfiszierten E-Mails des Leichtathletik-Trainers Thomas Springstein.

© SZ vom 23.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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