Deutschland und die WM:Weltmeister im Heißlaufen

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Zur WM-Auslosung präsentiert sich ein Land im Ballfieber - Politik, Wirtschaft und Sport setzen auf Sieg, doch das große Spiel ist unentschieden. Warum sich in Deutschland alles um den Fußball dreht.

Holger Gertz

Marketingmenschen haben einen Traum. Sie wünschen sich den Mond als Werbeträger. Es müsste riesige Satelliten-Projektoren geben, die das Symbol des eigenen Unternehmens auf die Mondoberfläche übertrügen, dann könnte es die ganze Welt sehen. Was für eine Vorstellung. Der Mond mit drei Streifen. Der Mond mit dem M von McDonald's. Der Mond in Magenta. Magenta ist die Farbe der Telekom, aber weil der Mond der Telekom nicht gehört, wird der Traum Traum bleiben. Außerdem ist man technisch auch noch nicht so weit.

Ganz Leipzig im WM-Fieber, mit einer riesigen Menschenkette feierte die Stadt am Vorabend der WM-Auslosung den Fußball. (Foto: Foto: AFP)

Die Telekom hat einen kleineren Mond gefunden, die Kugel des Fernsehturms in Berlin. Matthias Immel von T-Mobil steht im Leipziger Messezentrum vor einem Plakat des Fernsehturms, auf seine Visitenkarte ist sein enormer Rang im Unternehmen gedruckt: "Vice President Consumer Marketing".

Gebündelte Hoffnung

Immel sagt, wenn man schon WM-Sponsor ist, und die WM ist im eigenen Land, dann kann man nur in gewaltigen Kategorien denken. Da bot sich der Fernsehturm praktisch an, mit seiner Kugel, die gerade mit 3000 Quadratmetern Folie beklebt wird. Im Januar wird sie wie ein riesiger Fußball aussehen, ein Fußball in Silber und Magenta. Der Ball wird ein Reklamegag sein, aber auch ein Symbol für die Fußballbegeisterung im Land. Man wird ihn noch in Brandenburg mit bloßem Auge sehen können.

Matthias Immel formt, wenn er vom Ball als solchem spricht, Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis, wie ein Chefkoch, der den Gästen das beste Gericht des Tages empfiehlt. Er sagt: "Letztlich ist dieses Ding, die Kugel im Fernsehturm, durch die ganze Form an sich ja eh ein Fußball."

Wenn jeder so denken würde, könnte bald alles halbwegs Runde entsprechend umgedeutet werden, die Turmspitzen der Münchner Frauenkirche zum Beispiel, oder die Kuppel des Reichstags.

"Naja, der Reichstag hat 'ne politische Bedeutung, den wird man nicht einfach magenta anmalen", sagt Immel und klingt nicht so, als fände er die Idee grundsätzlich abwegig. Es kann irgendwie gar nicht genug Bälle geben, vor so einem Turnier. Nehmen Sie die Europameisterschaft in Portugal. Da gab es sogar Telefonzellen in Fußballform."

Telefonzellen sind aber kleiner als Fernsehtürme, weshalb der Fußball über Berlin auch als Symbol für die gewaltige Bedeutung durchgehen kann, die er in Deutschland hat; für die Hoffnungen, die er bündelt; für die Kraft, die von ihm ausgehen soll; für die ganze groteske Überhöhung eines Mannschaftsspiels auf Rasen. In Leipzig wird am heutigen Freitag ausgelost, gegen wen die deutsche Mannschaft in der Vorrunde der Weltmeisterschaft zu spielen hat. Die Stadt ist tapeziert mit Plakaten, auf denen mit Fußball oder für Fußball geworben wird. Im Messezentrum, wo die Auslosung über die Bühne geht, haben alle ihre Stände aufgebaut, die sich was von der WM versprechen, die Sportartikelfirmen und Wettanbieter und Reisebüros.

Eigenartiges Traumpaar - Otto Schily und Franz Beckenbauer, hier mit dem Komponisten Moritz Eggert. (Foto: Foto:)

Beate Uhse findet man dort nicht, dabei hatte der Konzern neulich verkünden lassen, die WM werde die Nachfrage nach Schmuddelfilmen anstacheln, warum auch immer. So flächendeckend, wie der Fußball während einer WM übertragen wird - wer soll da noch Zeit haben für einen anständigen Porno? Der Fußball soll gut sein für die Arbeitsplätze, für die Konjunktur, das steht jedenfalls dauernd groß in den Zeitungen. Manchmal steht klein daneben, dass bei den vergangenen Weltmeisterschaften in Japan/Korea und Frankreich das Wirtschaftswachstum zwar mitten im WM-Jahr nach oben ausschlug - nachhaltig war die Wirkung nicht.

"Nachhaltig" ist ein Schröder-Wort, aber man wird es in Leipzig nicht hören. Der Altbundeskanzler wird vom DFB zum Ehrenmitglied erklärt, ein Höhepunkt im Rahmenprogramm. In Leipzig verabschiedet sich der deutsche Fußball vom Fußballkanzler Schröder, der sich mit dem Fußballministerpräsidenten Stoiber ein ewiges Duell lieferte. Wer ist am Ball? Von beiden gibt es hunderte Bilder, wie sie auf eine Torwand schießen, während ihnen die Krawatte vor dem Bauch tanzt.

Kopfschuss für die Wählergunst

Schröder war treffsicherer als Stoiber, der einmal, als Kanzlerkandidat, eine Torwand in der Oberpfalz knapp verfehlte, aber dafür einer neben der Torwand stehenden Frau die Brille aus dem Gesicht fegte. Sie musste zum Arzt und versprach noch in der Praxis, Stoiber jetzt erst recht zu wählen.

Stoiber und Schröder herzten Beckenbauer und Pele, wo sie sie zu fassen kriegten; sie redeten von der Champions League, wenn es darum ging, politische Visionen auf den so genannten Punkt zu bringen; sie nannten es "sich neu aufstellen", wenn sie die Disziplin in ihren Parteien beschwören wollten.

Die Ehrenlogen in Stadien waren wie Wahlkampfpodeste, Fußball war immer Teil des Wahlprogramms. Sie waren mal Fan von Hannover und mal von Cottbus; von Bayern wie von Sechzig. Stoiber wählte eine Brille, die der Franz Beckenbauers ähnelte, und er schien es grundsätzlich darauf anzulegen, mit Beckenbauer verwechselt zu werden.

Schröder schrieb, nach der Finalteilnahme der deutschen Mannschaft bei der WM 2002, einen Beitrag für die FAZ, in dem er erwähnte, dass Deutschlands 8:0 gegen Saudi-Arabien am Tag des SPD-Wahlparteitags zelebriert wurde; dass zwei Tage vor dem WM-Finale der schwachbrüstige Euro schon kurz vor dem 1:1 gegen den US-Dollar stand. ¸¸Man sollte jetzt nicht auf die Idee kommen, es mit den Parallelen zwischen Fußball und Politik zu übertreiben", schrieb Schröder und übertrieb es dann mit den Parallelen zwischen Fußball und Politik.

Stoiber und Schröder machten und redeten den Fußball groß, getrieben von ein bisschen Leidenschaft und viel Kalkül. Sie wollten durch den Fußball selbst größer werden.

Dann wechselten sich beide in gewisser Weise selbst aus. Franz Beckenbauer ist noch immer da. In Leipzig führt er einen Film vor, Franzens Weltreise. Zum erstenmal besucht der Chef eines Organisationskomitees alle 31 qualifizierten Länder. Seine Rolle ist inzwischen eher die eines Fußballpapstes als eines Fußballkaisers. Bevor der Film abgefahren wird, redet er dies und das und streift kurz die Politik.

Eigenartiges Traumpaar

Er glaube, sagt Beckenbauer, dass der neue Innen- und Sportminister Wolfgang Schäuble sich "nahtlos in die Aufgabe seines Vorgängers Otto Schily einreihen wird". Da wird es beinahe still im Saal. Beckenbauer und Schily, das war auch eines dieser eigenartigen Traumpaare, die nur der Fußball zueinander führt.

Schily war eine Art Cheforganisator des Turniers, ausgerechnet im Fußball hatte der Großbürger eine Aufgabe gefunden, die seine Karriere zu veredeln schien, dabei übte Schily als Kind Cello, wenn die anderen bolzten. Er wirkt immer so wie einer, der in Schülermannschaften nur mitspielen durfte, wenn er es war, der den einzigen Ball besaß.

Aber zuletzt, als es um die Chancen von Rot-Grün ging, verglich Schily die politische Situation souverän mit dem vergangenen Champions-League-Finale Mailand gegen Liverpool, das die Engländer noch gewannen. In der Halbzeit hatten sie 0:3 zurückgelegen.

Was auf dem Platz möglich ist, soll auch außerhalb des Platzes klappen. Das Mutmach-Potenzial des Fußballs muss gewaltig sein, wenn sogar einer wie Schily darauf zugreift.

Teheran trifft Friedrichshafen

Der Fußballminister Schily hat sich nicht ausgewechselt, er ist ausgewechselt worden, und es hängt ein wenig Sentimentalität über der Szenerie, als der Beckenbauer-Film endlich anfängt. Franz in Saudi-Arabien, Franz in Korea, Franz in Japan, Franz in Italien, Franz in Kroatien, Franz auch im Vatikan, der sich allerdings nicht für die WM qualifiziert hat.

Man hört, wie Beckenbauer mit den Gastgebern darüber plaudert, wo in Deutschland ihr Team Quartier beziehen soll. ¸¸Friedrichshafen would be a great place to be for the Iranians." Wo das denn sei, Friedrichshafen, wollen die Iranians wissen, und Beckenbauer zeigt nach unten. Down. In the south. Dann ist der Film bald vorbei.

Franz Beckenbauer sieht ein bisschen fertig aus an diesem Tag, vielleicht liegt es an der Reiserei, vielleicht am Druck, den er als Libero immer hat abschütteln können. Der Druck dieser Tage ist viel größer. Er hat ja die WM nach Deutschland geholt, heißt es: Aber das ist ein Märchen. Natürlich haben die Politiker mit Wirtschaftsdeals nachgeholfen, doch darüber sprechen sie nicht.

Minutenlanges Daumendrücken

Im Juli 2000, als Deutschland den Zuschlag erhielt, die WM ausrichten zu dürfen, führte Beckenbauer durch die Präsentation vor den entscheidenden Gremien. Schröder stand hinter ihm, mit anderen Prominenten, und drückte minutenlang nur die Daumen. Rederecht hatte er ausdrücklich nicht, ein Novum in sieben Jahren Kanzlerschaft.

Der Tag des Zuschlags war gefühlt der letzte, an dem dem verzagten Land irgendwas gelungen ist. Beckenbauer ist seitdem von den Boulevardblättern zu einem Übermenschen hochgeschrieben worden, dem alles glückt. Wenn ein Aufschwung käme, durch die WM, dann hieße das, er allein hätte ihn gebracht, da er ja die WM geholt hat. Man könnte im Parlament den Bundesadler abschrauben und stattdessen eine seiner Autogrammkarten hinhängen.

Beckenbauer bricht die Mannschaft weg

Allerdings, wenn die WM die Erwartungen nicht erfüllt, dann ist er, Franz Beckenbauer, persönlich gescheitert.

Franz Beckenbauer setzt sich auf seinen Platz und überlässt das Mikrophon dem DFB-Generalsekretär. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. Dabei schwitzt er eigentlich nie. Er ist früher, als Spieler, verrückt geworden vor Zorn, wenn die anderen aus dem Team, die den Ball nicht so streicheln konnten wie er, sich wie Dilettanten verhielten. Er hat, als Fernsehkommentator, oft genug klar gemacht, wie sehr er Rumpelfußball verachtet.

Und jetzt werden überall die WM-Stadien gesperrt, weil die Tribünen bröseln; jetzt gibt es Ärger mit den Tickets; jetzt hängt ihnen der Schiedsrichter-Skandal noch nach; jetzt werfen Fans Trommelstöcke auf den Platz; jetzt rumpelt es dauernd, und er kann nichts dagegen tun. Jetzt sieht es so aus, als könnte sogar ihn das Glück verlassen. Und: Jetzt bricht ihm seine Mannschaft weg, Schröder, Stoiber, Schily, all die Männerfreunde.

In einer Fernsehwerbung reist Beckenbauer als eine Art Weihnachtsmann in einem Flugschlitten durchs Land und wirft Handys über Bord. Neben ihm sitzt Anna Netrebko.

In echt sitzt ab sofort Angela Merkel neben ihm, die in Leipzig ein Grußwort sprechen wird. Alle warten nur darauf, dass sie so was sagt wie Schalke 05. Die Kanzlerin kennt sich im Fußball nicht aus. Sie ist Naturwissenschaftlerin und weiß, dass der Fußball gar keine Strahlkraft entfalten kann, weil keine Leuchtstoffe drin sind. Ein Versuch an der Torwand ist bislang nicht überliefert.

Herrn Bacherts Beinfreiheit

Im Leipziger Hauptbahnhof gibt es eine Fress- und Konsumgasse über mehrere Etagen. Da hängt eine Uhr, die Tage bis zum WM-Beginn werden rückwärts gezählt, noch 184, 183, 182. Mit der Auslosung beginnt die letzte Phase, die Spielpläne werden gedruckt, die Mannschaften eingeteilt, in Duselgruppen und Hammer- bzw. Todesgruppen. So, wie das deutsche Team zuletzt gespielt hat, könnte sich auch Angola oder die Elfenbeinküste als Hammer- bzw. Todesgegner herausstellen.

Aus den Erwartungen an die Mannschaft wächst Druck, und es sind ja nicht die Erwartungen der Fans allein. Es sind die Medien, die Politiker, die Businessleute. Sie fordern von den Fußballern den Wirtschaftsaufschwung und Stimmungsumschwung. Sie haben Zahlen parat, die den Einfluss von Fußball auf den Lauf der Dinge belegen sollen und vor allem eins tun: den Druck noch erhöhen.

In den Regalen staubt Goleo vor sich hin, das Plüschmaskottchen der WM. Goleo soll ein Löwe sein, aber er sieht aus wie ein Lama nach dem Schleudergang. Außerdem hat Goleo nach wie vor keine Hose; der Mangel wütet überall. In vielen Schaufenstern hängen Fußballerposter. Der stille Fabian Ernst. Kevin Kuranyi mit dem lustigen Bart. Die Milchgesichter Mertesacker und Janssen. Wie sollen sie das schaffen? Noch ein halbes Jahr, und wenn es schief geht, fällt im Sommer ein aufgepumptes Land in eine Depression und sieht aus wie ein alter Ball, dem jemand das Ventil rausgerissen hat.

Am Ende des Bahnhofs, bei Gleis 22, sitzt Andreas Bachert. Er arbeitet in einem Infozentrum der Bahn und sagt den Reisenden, wo ihr Zug abfährt. Er hatte gerade Urlaub, und als er wieder zum Dienst erschienen ist, sah sein Schalter anders aus. Andreas Bachert sitzt jetzt in einem Fußball. Er muss zu Hause nicht mehr sagen: Ich geh jetzt ins Büro. Er ist einer von ganz wenigen, die sagen können: Ich geh jetzt in den Ball.

Der Fußball ist nicht magentafarben wie der in Berlin, er ist weiß mit roten Fünfecken. Die Bahn ist bei der WM offizieller Mobilitäts- und Logistikdienstleister. Bachert betritt den Ball über eine kleine Treppe und wendet sich der Kundschaft zu. Der Ball ist zu einer Seite hin offen. Ein uniformierter Bahnbeamter in einem aufgeschnittenen Fußball sieht irgendwie lächerlich aus, aber er sagt, es sei ihm wurscht. "Ob sie es glauben oder nicht. Es gibt noch welche, die sich nicht für Fußball interessieren. Ich zum Beispiel, mir ist das so was von egal."

Die Züge sind pünktlich an diesem Abend. Er hat nicht viel zu tun. Der Ball ist von innen beleuchtet. Zwei Gleise weiter blitzt ein Weihnachtsbaum.

Andreas Bachert sagt: "Tja, hätt' ich auch nicht gedacht, dass ich mal in einem Ball ende." Er trommelt mit den Fingerspitzen auf der Arbeitsplatte. Dann steht er auf und streicht mit der Hand über seinen neuen Polsterstuhl, und er zeigt den Spielraum, den seine Beine jetzt haben. Das ist ein echter Vorteil von großen Fußbällen, sagt Andreas Bachert. Man sitzt darin nicht schlecht.

© SZ vom 9.12.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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