Deutsche Mannschaft:Immer schön flexibel

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Mit Hurra ins WM-Achtelfinale: die deutschen Spielerinnen Carolin Simon , Lina Magull, Linda Dallmann, Klara Bühl, Giulia Gwinn und Alexandra Popp (von links) in Feierlaune. (Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Die deutschen Aufstellungen bei der Frauen-WM zu erraten, fällt schwer. Denn Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg setzt ganz bewusst auf Unberechenbarkeit.

Von Anna Dreher, Montpellier

Ein Handbuch gibt es dafür noch nicht. Aber es hat ohnehin jeder seine eigene Herangehensweise, seine eigenen Rituale. Fußballer holen sich auf unterschiedlichste Art ein Gefühl für den Rasen, auf dem sie anschließend spielen. Manche laufen zum Mittelkreis, schauen auf die Tribüne, treten ins Grün, tasten es ab. Andere bleiben nach wenigen Metern stehen, Kopfhörer auf, ernster Gesichtsausdruck. Manche schlendern locker in Kleingruppen übers Feld, als sei es ein Spaziergang durch den Park. Auch bei der deutschen Fußballnationalmannschaft der Frauen ist das so, jede macht das vor dem Spiel auf ihre Weise. Nur wie sich das dann im Spiel anfühlt, das haben manche bei der WM in Frankreich noch nicht erfahren - und werden es vielleicht auch nicht.

Es gehört zu den Ungerechtigkeiten einer Weltmeisterschaft, dass nicht alle, die spielen wollen, spielen dürfen. Mit gewisser Berechtigung, denn eine Stammformation zu etablieren hilft, um Sicherheit aufzubauen und Abläufe zu automatisieren, das weiß auch Martina Voss-Tecklenburg.

Aber bei ihrem ersten Turnier als Bundestrainerin hat sie auch die Grundforderung an ihre Spielerinnen ausgegeben, möglichst flexibel zu sein, weil Variabilität eben auch helfen kann zu gewinnen - und als eine der Schlüsselqualifikationen aufstrebender Mannschaften gilt.

Voss-Tecklenburg wird sich bisher jedenfalls in ihrer Taktik bestätigt fühlen. "Es ist toll zu sehen, dass wir so viel diskutieren können, welche Spielerin wann passt", sagte sie dieser Tage, "und zu wissen, wir haben dann auch noch Spielerinnen auf der Bank, die ergänzen, absichern oder verändern können. Wir müssen nach Leistung, Position und Gegner schauen, da fließen verschiedene Aspekte ein."

Bei der EM vor zwei Jahren führten viele Personalwechsel noch zu großer Verunsicherung

Voss-Tecklenburg hat sich auf eine Achse festgelegt: mit Torhüterin Almuth Schult, Marina Hegering und Sara Dooursoun in der Innenverteidigung, Sara Däbritz und Melanie Leupolz im Mittelfeld, Svenja Huth und Alexandra Popp in der Offensive und Giulia Gwinn mal hinten, mal vorne. Ansonsten wurde bei den drei Siegen in der Gruppenphase, auch beim lockeren 4:0 (3:0) gegen Südafrika am Montagabend, durchgewechselt. Das hält eine gewisse Spannung aufrecht, auch unter den Journalisten übrigens. Vor dem Anpfiff wird eifrig spekuliert, wer wo beginnt und wer später rein kommt. Bisher hat niemand eine Aufstellung der Deutschen auf allen Positionen richtig erraten. Die Bundestrainerin weiß zu überraschen, das fanden vor allem die Gegner nicht so toll.

Die Flexibilität und eine gewisse Unberechenbarkeit könnten zum Markenzeichen dieser deutschen Mannschaft bei der WM werden. Diese Flexibilität baut sich nicht nur durch verschiedene Namen auf dem Aufstellungsbogen auf, sondern auch dadurch, dass manche Spielerinnen auf erstaunliche Weise fast mühelos auch während eines Spiels nicht nur innerhalb ihres Mannschaftsteils, sondern zwischen Offensive und Defensive tauschen. Popp beispielsweise wirbelte gegen Spanien im Sturm, im zentralen Mittelfeld - und half sogar bei der Abwehr von Gegentoren.

Noch nicht entschieden ist jedoch vor dem Achtelfinale an diesem Samstag in Grenoble, in welchem Kontext sich dieses spezielle Teamlabel manifestieren wird: ob es eine Stärke bleibt. Oder nicht.

Das Risiko der Überraschung liegt ja darin, dass die Wirkung nicht abzusehen ist - auch bei der eigenen Mannschaft. Und es ist nicht allzu lange her, dass es dafür beim DFB-Team der Frauen ein weniger gutes Beispiel gegeben hat.

2017 war Deutschland einer der Favoriten bei der EM, acht Titelgewinne gab es bei diesem Turnier zuvor. Es lag eine gewisse Euphorie in der Luft, auch verbreitet von der damaligen Bundestrainerin Steffi Jones bei ihrer ersten Station an der Seitenlinie. Das Team war im Umbruch, es musste sich neu finden, und Jones dachte, dafür den richtigen Plan zu haben: Sie wollte, dass in der Vorrunde alle Kaderspielerinnen nicht nur bei der Platzbesichtigung den Rasen fühlten. So durfte jede Feldspielerin in der Gruppenphase ran. Doch statt Ausgeglichenheit löste dieses Durchwechseln eine Unsicherheit aus, die mit dem bitteren Ausscheiden im Viertelfinale endete.

Die gute Vorrunden-Bilanz: drei Siege, 6:0 Tore - trotz des Ausfalls von Dzsenifer Marozsán

Die Situation ist nun natürlich eine andere, Voss-Tecklenburg ist ein anderer Typ Trainerin, mit mehr Erfahrung und womöglich auch mehr Gespür für ihre Mannschaft. Und ihre Forderung nach Flexibilität wurde vor allem deshalb akut, weil sich Spielmacherin Dzsenifer Marozsán beim WM-Auftakt gegen China den mittleren Zeh gebrochen hatte. Vielleicht hätte Voss-Tecklenburg die Flexibilität ansonsten gar nicht so intensiv getestet. Bisher aber geht ihr Plan gut auf. Systemumstellung, Wechsel und taktische Verschiebungen führten gegen China, Spanien und Südafrika zu drei Siegen mit 6:0 Toren.

Was fußballerisch fehlte, wurde kämpferisch ausgeglichen. Deutschland steht als Gruppensieger im Achtelfinale, es war das erklärte Etappenziel. Und dies scheint erreicht worden zu sein, ohne dass die Wechsel eine Gefährdung für die innere Balance des Teams waren. Als Popp gegen Südafrika mit einem wuchtigen Kopfball das 3:0 erzielt hatte, lief sie direkt zur Bank, winkte alle Ersatzspielerinnen zu sich und verschwand in einer Massenumarmung. "Mir war wichtig, auch mal zu zeigen, dass die Bank ein ganz wichtiger Teil für uns ist. Es gibt nicht nur die elf, die auf dem Platz stehen, sondern alle anderen, die mit dabei sind", betonte die Kapitänin.

Linda Dallmann, 24, die gegen Südafrika eingewechselt wurde und zuvor vor allem zugeschaut hatte, sagte: "Ich glaube, dass da was zusammenwächst. Es ist nicht selbstverständlich, dass die Stimmung unter allen so gut ist." Nur die Ersatztorhüterinnen Laura Benkarth und Merle Frohms, sowie Leonie Maier, Johanna Elsig und Turid Knaak noch nicht gespielt. "Aber Leonie zum Beispiel verbreitet nach dem Spiel immer so gute Laune", sagte Dallmann, "wir sehen uns als Ergänzung, nicht als Reserve." Die Bundestrainerin neben ihr lächelte und nickte. Wer der nächste Gegner ist, weiß Martina Voss-Tecklenburg noch nicht. Aber sie weiß, dass sie die passenden Spielerinnen hat.

© SZ vom 19.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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