Deutsche Elf:Die Reifeprüfung

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Das Vorprogramm ist sorglos erledigt, gegen Schweden beginnt für die deutsche Elf der Hauptfilm der WM.

Philipp Selldorf

Zu den Ritualen vor einem Länderspiel gehört, dass der Bundestrainer am Tag vor der Partie von den Reportern nach der Aufstellung gefragt wird und dass er dann in aller Freundlichkeit erwidert, gerne werde er seine vollständige Auswahl bekannt geben - allerdings erst anderthalb Stunden vor Spielbeginn.

Das war eigentlich immer so bei den DFB-Bundestrainern seit Franz Beckenbauer, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger: Erich Ribbeck erlaubte sich in seiner hemmungslosen Ungezwungenheit, diese Trainertradition gelegentlich zu ignorieren; Rudi Völler hielt sich dran wie an ein Gesetz, vermutlich auch in Reaktion auf seine zeitkritische Klage, im Fußball sei "alles gläsern geworden".

Als Jürgen Klinsmann am Tag vor dem Achtelfinalspiel gegen Schweden vor die Presse trat, hat niemand nach der Aufstellung gefragt. Jeder glaubt, die Elf zu kennen, die sich in München ihrer Reifeprüfung stellt: Es ist wohl dieselbe Auswahl (nur inklusive Ballack), die vor zwei Wochen am selben Ort das WM-Werk begann.

Das letzte diskutable Detail hatte Klinsmann bereits nach dem 3:0 gegen Ecuador geklärt, als er erzählte, Metzelder werde wieder seinen Posten in der Innenverteidigung beziehen und Huth auf die Ersatzbank zurückkehren.

Huth, ohnehin ein leicht melancholisch gestimmter Spieler, erfuhr davon in einem Fernsehinterview und konnte seine Traurigkeit schwer verbergen.

Nicht genügend Tickets für Lahm

Dabei befindet sich Klinsmann bei der Personalwahl in einer außergewöhnlichen Lage, um die ihn wohl viele seiner Kollegen beneiden: Sämtliche 23 Akteure stehen bereit, nicht mal von minderen Blessuren ist die Rede, und die größte aktuell bekannte Misshelligkeit ist eine ganz gewöhnliche deutsche Not: Die Spieler erhalten nicht genügend Tickets, weshalb Philipp Lahm mit dem ihm zustehenden Kartenkontingent nur einen Bruchteil seines Münchner Freundeskreises versorgen kann: "Ich hätte sicher ein paar tausend Karten loskriegen können", sagte er am Freitag.

Die Abwesenheit von Problemen im deutschen Team ist beinahe beunruhigend. Bisher hatte es vor jedem WM-Spiel einige Personalien gegeben, die ein Risiko für den Erfolg bedeuteten: Im Eröffnungsspiel gegen Costa Rica diskutierte man darüber, dass Klinsmann seinen Kapitän Michael Ballack aus der Startelf verbannt hatte (wegen einer "Wadenverletzung"), und über das Abwehrduo Mertesacker/Metzelder, deren Verlässlichkeit in Frage stand.

Im Spiel gegen Polen war Ballack kein Thema mehr, die Abwehr mit Mertesacker/Metzelder aber um so mehr, denn als dritter Sorgenfall gesellte sich Nebenmann Friedrich hinzu, dem eine akute Ball-Phobie attestiert wurde.

Bombenstimmung

Daran krankte er noch vor dem Treffen mit Ecuador, und weiteren Kummer bereiteten die aus dem Tritt geratenen Jungstars Schweinsteiger und Podolski.

Nun aber, pünktlich vor "dem ersten Spiel in zwei Jahren, wo es wirklich um alles oder nichts geht" (so Torsten Frings), sind alle an der Moral zehrenden Debatten ausgestanden, und der Bundestrainer kann glaubhaft melden: "Wir haben eine Bombenstimmung in der Mannschaft."

Auch der fußballerische Vergleich spricht wohl eher für die DFB-Elf, und vielleicht ist es auch ein Vorteil für die deutsche Elf, dass sie jünger ist und in ihrem Spiel weniger Aufwand treibt, denn es soll sehr heiß werden in München, und vielleicht wird es ein langer Arbeitstag.

"Wenn es über 120 Minuten gehen sollte, haben wir die große Hoffnung und Überzeugung, dass wir noch fitter sind als die Schweden", sagt Klinsmann. Pause. "Und wenn's sein muss, dann machen wir es im Elfmeterschießen."

Und trotz aller guten Vorzeichen bleibt die Lage irgendwie trügerisch; die Mannschaft ist verwöhnt durch die Komplimente für ihren bisherigen Turnierauftritt (das schönste stammt von Irlands Nationaltrainer Staunton: "Deutschland ist ein gefährliches Tier"). Aber die Älteren im Team, die schon ein paar Dramen hinter sich haben, wissen genau, dass seit zwei Jahren (Ära Klinsmann) respektive zwei Wochen (WM) nur ein Vorprogramm läuft.

Der Hauptfilm beginnt erst am Samstag, und die Mannschaft steht nun vor einer Situation, die man "nicht simulieren kann", wie Frings sagt.

Kurioserweise hat sie durch den überzeugenden Stil ihres Fortkommens den Erfolgsdruck eher erhöht als gesenkt, nicht bloß in sportlicher Hinsicht. Natürlich ist Deutschland der Favorit, und natürlich wird Schweden von den Fans unterschätzt. "Daran sind wir ja selbst schuld, weil wir in der Vorrunde so gut gespielt haben", sagt Frings.

Aber damit endet die Bürde nicht: Die WM ist ein gigantischer Publikumserfolg, die ganze Welt begeistert sich auf einmal für die fröhlichen, immerzu feiernden Deutschen, und es ist selbstverständlich, dass die Nationalmannschaft mit ihren Erfolgen die gute Laune mobilisiert. Von der Verantwortung für den weiteren Erfolg des Turniers hat Klinsmann die Mannschaft am Freitag ausdrücklich entbunden.

Die Party würde auch ohne seine Elf weitergehen, behauptete er, und irgendwie gelingt es ihm damit, die Balance zu halten: moralischen Ballast verringern, Erfolgszwang aufrechterhalten. "Unsere Erwartungen als Fußballnation hören nicht im Achtel- oder Viertelfinale auf, schon gar nicht bei einer WM im eigenen Land", sagt Klinsmann.

30 Grad prophezeien die Wetterdienste beim Anpfiff um 17 Uhr. Na und? "Wir sind ja südländische Typen", sagt Schweinsteiger. Es scheint, als hätten die Deutschen wirklich eine Menge dazugelernt.

© SZ vom 24.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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