Deutsche Abwehr:Wenn ein Torso zum Bollwerk wird

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Gegen alle Prognosen entpuppt sich die deutsche Abwehr als stabil und flexibel.

Philipp Selldorf

(SZ vom 27.6.02) - "Ja, gut", begann Carsten Ramelow seinen Satz - und das zum wiederholten Male. Tausend Fragen drangen an sein Ohr, als er eine Stunde nach Spielschluss wie ein Entertainer auf der Bühne der Interviewzone stand. Vor sich ein Mikrofon, unter sich ein Fachpublikum aus allen Erdteilen.

Carsten Ramelow (r.) schirmt den Ball vor Südkoreas Lee Chun Soo (l.) ab (Foto: N/A)

Die Leute stellten (I) Fragen, die von der besonderen Tragik des Kollegen Michael Ballack handelten; sie verlangten (II) Auskunft nach Champagnerbädern und Jubelarien in der deutschen Kabine; sie erkundeten (III) Ramelows persönliche Genugtuung, weil er beim letzten Spiel hatte zuschauen müssen und einige Beobachter daraus konstruierten, er sei vom Teamchef degradiert worden.

Man stellte ihm also lauter Fragen, die Epen zur Antwort hätten haben können. Doch Ramelow sagte (I): "Ja gut, ist halt bitter für Michael." Und (II): "Ja gut, wir haben uns gefreut, aber wir haben noch lange nichts erreicht." Oder (III): "Ja gut, das war'n bisschen blöd für mich." Immerhin streute er noch gratis ein Selbstlob ein: "Aber ich denke, heute war's ganz gut."

Zwei knifflige Momente

Ja gut, möchte man ihm da zurufen: Es war sogar ganz ausgezeichnet, was Sie an diesem Abend gespielt haben. Zwei persönlich knifflige Momente hatte er in seiner Eigenschaft als freier Mann - in diesen Fällen: letzter Mann - in der Viererkette zu überstehen. Beide Male erhielt er einen Freistoß zugesprochen, weil er dem Schiedsrichter durch effektvolles Hinstürzen suggeriert hatte, er sei das Opfer einer Regelwidrigkeit gewesen.

Auch das ist ja beizeiten eine wertvolle Kunst. Nachdem er diese beiden Szenen schadlos überstanden hatte, spielte Carsten Ramelow außer seinem 29. auch sein bestes Länderspiel, und dass Deutschland wieder zu Null spielte, geht auf seine kluge und engagierte Leistung zurück.

WM-Rekord: ein Gegentor

Und natürlich auf Christoph Metzelder. Auf Thomas Linke. Torsten Frings. Oliver Kahn. Auf...- es ist nach wie vor nicht zu fassen: Ein einziges Tor hat diese Nationalmannschaft in sechs Turnierspielen kassiert, und das fiel erst in der Nachspielzeit der Partie gegen Irland (Robbie Keane sollte sich den Treffer ausstopfen und an die Wand hängen).

Damit haben die Deutschen einen WM-Rekord eingestellt. So billig ist außer den Niederländern 1974 um Cruyff, Neeskens und den verschrobenen Torwart Jongbloed noch kein Team ins Finale gelangt. Nicht mal die Franzosen vor vier Jahren mit ihrer phänomenalen Viererkette - Lizarazu, Desailly, Blanc, Thuram -, die zwei Einschüsse gestatten mussten.

Nowotny-Ausfall gut verkraftet

Außer dem deutschen Sturm, der vor der WM weltweit als nicht existent angesehen worden war, galt die Abwehr als Schwachstelle von der Dimension des Lecks in der Titanic. Zumal ihr der Kapitän abhanden gekommen war, Jens Nowotny, allgemein als Schlüsselfigur in Rudi Völlers Deckungskonzept angesehen. Mit dem (gründlich unterschätzten) Abwehrfacharbeiter Linke, den jungen Baumann, Kehl und Metzelder, dem Rekonvaleszenten Rehmer und dem Aushilfs-Nowotny Ramelow schien die deutsche Abwehr dazu verurteilt, als "Torso" zu figurieren, um hier einmal der Kommentatorensprache die Ehre zu geben. Jedenfalls dachten das alle, die vorher schon alles wissen. Aber sie wussten gar nichts.

Es ist aber nicht nur die Summe der Einzelleistungen, die Oliver Kahn diese einsamsten Momente seines Torwartdaseins erspart haben; jene Momente, in denen er sich bücken muss, um den Ball aus dem Netz zu klauben oder wenn er zusehen muss, wie der Ball aus den Maschen zurück ins Feld springt. Dieser Rekord beruht auch auf dem Zusammenspiel einer Gemeinschaft, die sich jedes Mal aufs Neue gedanklich schnell findet. Zwar haben Metzelder, Linke, Frings noch keine Partie versäumt, Kahn ohnehin nicht. Aber sie mussten fortwährend einem anderen strategischen Standard gerecht werden.

Ob Dreier- oder Viererkette - die Deckung hält

Die Ordnung in der deutschen Deckung wurde manchmal innerhalb einer Partie zweimal grundrenoviert: Gegen Kamerun wurde aus einer wackligen Dreier- schlagartig eine stabile Viererkette. Gegen Paraguay korrigierte Völler sein Konzept mit einem Personalwechsel (Kehl für Rehmer) und der Umformierung des ganzen Verbandes.

Gegen die USA ließ er wieder Kehl als zentrale Figur in der Verteidigung antreten, mit dem Effekt, dass die ganze Mannschaft durch dessen nervöses, unsortiertes Spiel verunsichert wurde. Ramelow hätte sich hier als Soforthelfer am Unfallort angeboten, aber Völler verzichtete ausnahmsweise auf die Umstellung.

"Etwas gebastelt"

"Was unsere Mannschaft auszeichnet, ist, dass wir in verschiedenen Situationen jedes Mal gut zurecht kommen", fand Christoph Metzelder auch nach der Partie gegen Südkorea eine deutsche Tradition bei diesem Turnier bestätigt: nicht nur körperlich, sondern auch geistig beweglich zu bleiben und flexibel zu reagieren. "Wir haben etwas gebastelt und sind ins Risiko gegangen", schildert es der Teamchef. Rudi Völlers Risikobereitschaft hat ihm einen Hauptgewinn gebracht.

Und so setzte sich hier für Oliver Kahn, der Tore als Prügel am eigenen Leib empfindet, eine Ballsaison fort, in der ihm diesbezüglich relativ wenig Schmerz zugefügt wurde. Schon beim FC Bayern blieb er mit rekordverdächtig wenigen Gegentreffern (25 in 34 Spielen) in der Bundesliga weitgehend schadensfrei, was er damals bescheiden auf eine "übermenschliche Leistung" seiner Vorderleute zurückführte.

Bayern-Abwehr ausgeschieden

Es ist eine schöne Ironie, dass die von Ottmar Hitzfeld bevorzugten Übermenschen der Münchner Bayern-Abwehr - Lizarazu, Kuffour, Kovac, Sagnol - bei der Weltmeisterschaft allesamt bereits ausgeschieden sind oder ohnehin Ferien machen mussten.

Thomas Linke aber, der in der Münchner Viererkette die fünfte Wahl geblieben war, darf mitmachen bis zum Schluss, versäumt wahrscheinlich keine Minute Spielzeit - und hat sich einen Platz in der Weltelf des Turniers verdient. Ja gut, würde Carsten Ramelow vermutlich sagen, so ist das halt im Fußball.

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