Derby in Hamburg:Hansestadt St. Pauli

Lesezeit: 3 min

"Hamburg ist braun-weiß": Der Underdog feiert euphorisch den ersten Liga-Heimsieg gegen den HSV seit 59 Jahren.

Von Jörg Marwedel, Hamburg

Dieses "atemberaubende Spiel", wie es der Mittelfeldspieler Marvin Knoll im Namen aller Kollegen nannte, haben die Fußballer des FC St. Pauli nach dem Schlusspfiff mit einer Banderole gefeiert, die sie ihren 26 000 aus dem Häuschen geratenen Fans, aber auch den 3000 deprimierten HSV-Unterstützern im Stadion vorhielten: "Hamburg ist braun-weiß!" Solche Slogans entstehen nur nach einem Derby - insbesondere, wenn der historische Sieg der erste gegen den Hamburger SV am heimischen Millerntor seit fast 60 Jahren war, seit einem 4:1 im Februar 1960. Emotionssteigernd kam für St. Pauli ja noch hinzu, dass nur 190 Tage zuvor an selber Stelle ein peinliches 0:4 gegen die sonstige Nummer eins der Stadt unterlaufen war.

Dieses 2:0 im ersten Zweitliga-Saisonduell um die Stadtmeisterschaft 2019/20 war sogar nach Meinung des zerknirschten HSV-Trainers Dieter Hecking "Werbung für die Fußballstadt Hamburg". Aber natürlich mit Einschränkungen aus dem Blickwinkel des Verlierers - nicht nur, weil das Derby nicht standesgemäß in Liga eins stattfand. Es war vor allem die erste halbe Stunde der Partie, in der der bisherige Tabellenführer HSV "kein Derby-Spiel" zeigte, wie Routinier Aaron Hunt selbstkritisch anmerkte. Die zuvor unbesiegten Favoriten liefen den bissigeren, früh angreifenden Außenseitern hinterher - mit ersten Folgen in Minute 18: Nach einem Kopfball von Knoll an den Pfosten war Dimitrios Diamantakos schneller als HSV-Verteidiger van Drongelen und beförderte den Abpraller per Kopf im Tiefflug ins Netz (1:0).

Allerdings brauchten die Fußballer von der Reeperbahn auch eine Prise Glück, und die lieferte ihnen Schiedsrichterassistent Holger Henschel. Der war aus etwa 70 Metern Sichtentfernung überzeugt, dass bei einer von Bakery Jatta in der 45. Minute geschlagenen Flanke der Ball die Torauslinie bereits überquert hatte, weshalb das anschließend per Hacke erzielte Ausgleichstor von HSV-Stürmer Lukas Hinterseer aberkannt wurde. Dieser Aufreger führte zu einer thematisch neuen Grundsatzdebatte über den Videobeweis. Denn wenn es, wie der betroffene Trainer Hecking feststellte, "auf der wichtigsten Linie des Stadions", also der Torauslinie, "keine Kamera gibt, dann bringt der ganze Videobeweis in der zweiten Liga nichts".

Selbst der unermüdliche St.-Pauli-Antreiber Knoll räumte ein, nachdem er die TV-Aufnahmen gesehen hatte: "Ich glaube nicht, dass der Ball in vollem Umfang im Aus war." Das verhinderte 1:1 hatte massive Auswirkungen: So konnte der Nicht-Torschütze Hinterseer fortan seine Beine nicht mehr sortieren. In der 57. Minute hätte der Österreicher ein weiteres Mal das 1:1 erzielen müssen, doch er schoss sich, freistehend vor dem Tor, selbst ans Standbein, so sprang die Kugel noch über die Latte.

Wie es bei historischen Ergebnissen manchmal so ist, trug der HSV selbst einiges zum Triumph des Underdogs bei. Als St. Paulis überragender Spiellenker Mats Möller Daehli einen Freistoß in den HSV-Strafraum zirkelte und sein Kollege Knoll den Ball listig passieren ließ, kickte van Drongelen, bedrängt von Diamantakos, den Ball zum 2:0 ins eigene Netz. Zwar agierte der HSV nach den Einwechslungen von Hunt und Zugang Martin Harnik dominant, doch am Ende hätte es, wie Pauli- Trainer Jos Luhukay etwas überspitzt konstatierte, "auch 7:3" für die Heimelf ausgehen können. Zumindest gab es gegen die aufs Tempo drückenden Gäste eine ganze Reihe dicker Konterchancen - allein vier in den letzten zehn Minuten, wobei Möller Daehli noch den Pfosten traf. In dieser Phase wurde deutlich, dass der neue Coach Luhukay mit seinem Mission einer "Mentalitätsveränderung" bei St. Pauli bereits vorwärtsgekommen ist, wie er betonte.

Noch zu Saisonbeginn, als Luhukay das Team und den ganzen Verein in einer viel beachteten Wutrede heftig kritisiert hatte, habe man "mutlos" agiert, gab Knoll zu. Bei den Heimspielen gegen Fürth (1:3) und Kiel (2:1) wollten sich wegen Luhukays kraftraubenden Stils "fünf, sechs Leute mit Krämpfen auswechseln lassen", erinnerte sich der Trainer - diesmal seien es nur zwei gewesen. Besonders stolz ist Luhukay zudem, dass gegen den HSV gleich fünf Spieler im Alter von 19, 20 und 21 Jahren zum Einsatz kamen: der vom Premier-League-Klub Brighton geliehene Norweger Leo Östigard in der Innenverteidigung, dazu Finn Ole Becker und Christian Conteh aus dem eigenen Nachwuchs, dazu der Engländer Matt Penney sowie der gerade aus Salzburg geleaste Malier Youba Diarra.

Diese Talente wiederum können sich inzwischen an einer Achse mit erfahreneren Pauli-Profis anlehnen. Der erst Ende August von Anderlecht geborgte walisische Nationalspieler James Lawrence spielt mit Ruhe und Kopfballstärke eine wichtige Rolle. Dazu kommen Torwart Robin Himmelmann (der gegen den HSV dreimal fantastisch rettete), der immer stärker werdende Regisseur Möller Daehli, der Rädelsführer Knoll - und Stürmer Diamantakos, der bereits sein viertes Saisontor erzielte.

Die HSV-Fans könnten sich ein Vorbild an Trainer Hecking nehmen, der den Sieg des Stadtrivalen als "verdient" bezeichnete. Die HSV-Anhänger hingegen haben am Montagabend, wie auch überschwängliche Ultras von St. Pauli, mal wieder mit dem Pyro-Feuer gespielt. Die dunklen Rauchwolken, die sie am Schluss des Abends verursachten, wirkten wie ein Werk von schlechten Verlierern.

© SZ vom 18.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: