Der Flügelflitzer:Von Helden und Idioten

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Für einen Sportler gibt es kaum Wichtigeres, als einen Wettkampf zu beenden. Deshalb hätten Autoren der griechischen Antike ihre wahre Freude an diesem Wochenende gehabt.

Jürgen Schmieder

Das Wichtigste an einer sportlichen Leistung, Plutarch und Lukian von Samosata können das gerne bestätigen, ist das Erreichen der Ziellinie, das Durchhalten, das Niemals-Aufgeben. Die beiden griechischen Autoren waren so etwas wie die ersten Sportjournalisten, sie beschrieben den Lauf des jungen Pheidippides am 12. September des Jahres 490 vor Christus, der nach der Schlacht von Marathon nach Athen eilte, um seinem König die Nachricht vom Sieg zu überbringen.

Sebastian Vettel wollte das Rennen auf drei Rädern beenden. (Foto: Foto: AP)

Pheidippides hieß in anderen Erzählungen Thersippos oder Eukles, überhaupt ist nicht klar, ob es diese Person und seinen Lauf jemals gegeben hat - den Sportjournalisten damals war die Dramatik der Geschichte wichtiger als die Fakten. Auf jeden Fall wurde dieser Pheidippides nicht von Schiedsrichtern beobachtet und von Rennkommissaren überwacht. Er durfte die 42,195 Kilometer einfach laufen, er durfte mit anderen Läufern zusammenstoßen, er hätte auch auf einem Bein hüpfen können. Wichtig war nur, dass er ins Ziel kam.

Sebastian Vettel muss sich am Sonntag gewünscht haben, sein Formel-1-Rennen würde im antiken Griechenland stattfinden. 307,574 Kilometer mussten die Fahrer auf dem Albert Park Circuit in Melbourne zurücklegen, dann wurde die schwarz-weiße Fahne geschwenkt. Nach etwa 295 Kilometern, also nach mehr als 96 Prozent des Rennens stieß Vettel mit seinem Konkurrenten Robert Kubica zusammen, dabei klappte das rechte vordere Rad seines Boliden nach oben.

Vettel erkannte sofort die Unsinnigkeit seiner Tat und funkte an die Box: "Ich bin ein Idiot." Wahrscheinlich hatte er Angst vor den strafenden Blicken seiner Mechaniker, weshalb er nicht abbog in die Box, sondern einfach weiterfuhr. Im modernen Sport bleibt so etwas freilich nicht unbemerkt und weil die Weiterfahrt verboten war, muss Vettel 50.000 Dollar Bußgeld bezahlen und wird beim nächsten Rennen um zehn Startplätze nach hinten verlegt.

Vielleicht erinnerte sich Vettel an Nigel Mansell - jenen Rennfahrer, dessen Lotus im Jahr 1984 in Dallas plötzlich stehenblieb, weil die Gangschaltung streikte. Es war wenige hundert Meter vor dem Ziel, weshalb Mansell kurzerhand aus dem Auto stieg und zu schieben begann. Er schob und schob und schob und wollte sich partout nicht helfen lassen. Etwa 200 Meter vor dem Ziel brach er erschöpft zusammen.

Mansell durfte das Rennen ebensowenig beenden wie der damals noch für die Sowjetunion startende Geher Andrej Perlow am 2. Juni 1991 in San José. Exakt 49,990 Kilometer hatte Perlow beim 50-Kilometer-Rennen absolviert, er lag uneinholbar in Führung, als ihn der spurtende Kampfrichter Gary Westerfield einholte und von der Rennstrecke drückte. Zehn Meter vor dem Ziel wurde der Russe aufgrund des dritten Regelverstoßes disqualifiziert. Mit Tränen in den Augen trottete Perlow abseits der Strecke über das Ziel.

Es gibt für einen Sportler eben nichts Wichtigeres, als einen Wettkampf zu beenden - was danach geschieht, ist irrelevant. Das mag sich auch ein Fußballer der Kreisklasse in Nordbayern gedacht haben. Nach dem Schlusspfiff des Schiedsrichters schnappte er sich den Ball und pfefferte ihn seinem Gegenspieler ins Gesicht. Er hatte nur vergessen, dass der Unparteiische lediglich die erste Halbzeit beendet hatte und eigentlich noch 45 Minuten zu spielen gewesen wären. Daran durfte er jedoch nicht mehr teilnehmen.

Plutarch und Lukian von Samosata lobten in ihrer Berichterstattung den Läufer Pheidippides, sie ließen ihn die Worte "Seid gegrüßt! Wir sind Sieger" sagen, ehe er heldenhaft verstarb. Wenn die griechischen Dichter nun dem jungen Kreisklassen-Fußballer Worte in den Mund legen müssten, dann würden sie sich wohl eher am Funkspruch von Sebastian Vettel orientieren.

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