Der Flügelflitzer: Elfmeterschießen:Schrecken (fast) ohne Ende

Lesezeit: 3 min

Das griechische Pokalfinale dauert mehr als drei Stunden und 34 Elfmeter lang. Schuld daran ist ein heute 93-jähriger Deutscher.

Sebastian Winter

Vielleicht schreiben die Anhänger von AEK Athen jetzt ein paar böse Zeilen in das neue Forum auf der Homepage von Karl Wald. Der stolze griechische Verein hat gerade eine Tragödie miterleben müssen: Nach drei Stunden und 15 Minuten des Zitterns verlor er im Pokalfinale gegen den Erzfeind Olympiakos Piräus 14:15 im Elfmeterschießen. Und Karl Wald gilt als Begründer des Elfmeterschießens.

Niederschmetternde Trauer nach drei Stunden, 15 Minuten: Der Brasilianer Edinho vom Elfmeterschießen-Verlierer AEK Athen. (Foto: Foto: AFP)

1970 wurde der Antrag des heute 93-jährigen Wald, dieses einzuführen, auf dem zwölften Schiedsrichter-Verbandstag in München angenommen und eroberte die Fußballwelt. "Ich musste früher als Schiedsrichter in Entscheidungsspielen oft genug die beiden Spielführer zu mir rufen, um eine Münze zu werfen", sagt Wald heute. "Die Enttäuschung der verlierenden Mannschaft war da immer groß und man sah sich um den Lohn der sportlichen Leistung gebracht."

Wie die Sowjetunion zum Beispiel beim Münzwurf im EM-Halbfinale 1968 gegen Italien. Verlängerung, Unentschieden, Kopf oder Zahl, Italien war abgezockter, wie immer. Und wurde nach dem großen Wurf auch noch Europameister. Ist nicht fair? Ein Ende mit Schrecken ist doch allemal besser als ein Schrecken (fast) ohne Ende.

Im Athener Olympiastadion mussten die Zuschauer schon ein furioses Spiel miterleben, ein Spiel wie ein Drama:

Prolog Das Athener Olympiastadion ist ausverkauft, der Staatspräsident Karolos Papoulias schaut zu. AEK gegen Olympiakos, das ewig junge Duell. Die magische Nacht kann beginnen:

I. Akt Athen führt nach acht Minuten mit 2:0 durch Treffer von Ismael Blanco, dem König der Schützen in dieser Saison. Der griechische Meister wankt.

II. Akt Derbyshire, der Engländer, schießt in der 47. Minute den Anschlusstreffer. Dudu schafft in der 70. Minute den Ausgleich. Doch kurz vor dem Abpfiff der Schock. Scocco, der Argentinier, bringt Athen erneut in Führung, das Stadion brodelt, die AEK-Fans sind sich des Triumphes gewiss. Und sinken in der Nachspielzeit leidvoll zusammen. Derbyshire, dieser Königsmörder, jubelt für Olympiakos. Athens Kapitän Kyrgiakos sieht noch Gelb-Rot, aber da sitzt er längst auf der Ersatzbank - ausgewechselt wegen Muskelschmerzen. Verlängerung.

III. Akt Olympiakos erzielt bald durch Galletti das 4:3. Die erste Führung. Der Schütze freut sich, er freut sich so sehr, dass er wegen Trikotausziehens die zweite gelbe Karte sieht. Nur ein paar Minuten später folgt ihm Mannschaftskollege Avraam Papadopoulos wegen einer Notbremse. Neun gegen elf. Wieder ist es Scocco, der für Athen trifft. 4:4, Elfmeterschießen.

Letzter Akt Jeder Schuss ist ein Treffer, nun läuft Majstorovic für AEK an, der schwedische Abwehrspieler. Pfosten. Olympiakos-Kapitän Djordevic kann das Drama im letzten Spiel seiner Karriere beenden. Er verschießt. Es folgt Elfmeter auf Elfmeter. Die Nacht will nicht enden. Der Kampf dauert 195 Minuten, als Olympiakos-Keeper Nikopolidis den 34. Schuss von Augutin Pelletieri hält. Nikopolidis tritt nun selbst an. Der Torwart verwandelt. Olympiakos holt sich den 24. Pokalsieg. Der Vorhang fällt.

Der Held des Abends sagt überwältigt: "Darum ist Fußball das beste Spiel auf diesem Planeten", der Kommentator verbeugt sich vor dem "verrücktesten Spiel aller Zeiten", die Zeitungen jauchzen vom "Spiel aller Spiele".

Doch niemand redet von den Verlierern. Niemand von Pelletieri oder Majstorovic. Sie könnten David Beckham anrufen, einen Meister des entscheidenden Fehlschusses, oder Uli Hoeneß, dessen Elfer im EM-Finale 1976 in den Nachthimmel von Belgrad flog. Oder John Terry, dem Elfmeter-Ausrutscher aus dem Champions-League-Finale 2008.

Sie alle würden Karl Wald sicher keine Dankesbriefe schicken. Das Elfmeterschießen kann ein langanhaltender Spannungsschmerz sein, dass sich mancher denkt: Beim guten alten Münzwurf hätte ich meinen Frust schon längst im fünften Bier ertränken können. Zum Beispiel die Spieler des VfB Stuttgart, die 1995 gegen den SV Sandhausen in der ersten Pokal-Runde 12:13 verloren. Oder die Profis des argentinischen Klubs Racing Club Avellaneda. Sie verloren 1975 das längste Elfmeterschießen überhaupt. Gegen die Argentinos Juniors unterlagen sie 19:20. Ihr 40. Schütze schoss, so heißt es, nie wieder einen Elfmeter. Karl Wald hat das von Anfang an kaltgelassen: "Ich war im Fußball immer so schlecht, dass ich nie drankam."

© sueddeutsche.de/hum - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: