Christoph Kramer:"Dein Körper sagt: Hä?"

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Der Gladbacher spricht über die seltsame Atmosphäre bei Geisterspiele, freie Straßen und Wink-Rituale vor einer leeren Kurve.

Interview von Philipp Selldorf

SZ: Herr Kramer, Sie standen für Borussia Mönchengladbach auf dem Platz, als am vergangenen Mittwochabend beim Spiel Gladbach gegen Köln (2:1) das erste Geisterspiel der Bundesliga-Geschichte stattfand. Nach zweimal drüber schlafen - haben Sie weitere Einsichten gewonnen, die für mögliche weitere Spiele im leeren Stadion helfen würden?

Christoph Kramer: Der Eindruck hat sich da nicht groß geändert. Es war eine sehr bizarre Geschichte. Ich hatte vorher nicht geglaubt, dass es sich so komisch anfühlt, wie es dann tatsächlich war. Durch die Umstände ist man irgendwie im Trainingsmodus - das aber zu Matchbedingungen. Deshalb kommt es drauf an, ganz schnell zu realisieren, dass es ein wichtiges Spiel ist, in dem es um drei Punkte geht. Ich finde, das haben wir als Mannschaft ganz gut hinbekommen. Aber dass es ohne Fans nur halb so viel Freude macht, darüber müssen wir nicht reden. Auch vor dem Fernseher ist es nicht besser: Paris gegen Dortmund war auch keine gute Erfahrung.

Sie konnten das gucken? Ihr Spiel gegen Köln war doch erst um 20:23 Uhr vorbei.

War ja kein Stau am Stadion. Ich war schnell zu Hause.

"Bundesliga ohne Fans macht keinen Spaß", hat der Kölner Manager Horst Heldt gesagt. Das ist womöglich keine große Weisheit - aber doch eine neue Erkenntnis, oder?

Mir war das eigentlich schon vorher klar. Dass der Sport, nicht nur der Fußball, von Emotionen lebt, das ist das, was einen trägt, wofür wir es überhaupt machen. Auch wenn es laut wird und die Stimmung im Stadion gegen einen ist. Das ist einfach das Wichtigste im Sport. Aber vielleicht sind die Emotionen für uns so selbstverständlich, dass wir sie nicht mehr richtig wertschätzen konnten. Man hat halt nicht darüber nachgedacht, wie sie einem fehlen, wenn sie nicht da sind.

Dem Schiedsrichter Deniz Aytekin stand nach dem Spiel der Schrecken i ns Gesicht geschrieben. Er fand es "irgendwie beängstigend". Verstehen Sie, was er meint?

Beängstigend fand ich es nicht. Es war einfach anders. Wie ein schlechter Scherz. Einerseits herrschte eine ganz lockere Atmosphäre zwischen allen, aber andererseits wusstest du, dass es jetzt gleich um die Wurst geht.

Viele Ihrer Profi-Kollegen werden in den kommenden Wochen womöglich erstmals ein Bundesligaspiel ohne Zuschauer erleben. Haben Sie einen Ratschlag? Man müsse in den Modus finden, sagten Sie.

„Ich habe noch nie ein so unhitziges Derby auf dem Platz erlebt“: Christoph Kramer während des Geisterspiels gegen Köln. (Foto: Tim Rehbein/imago)

Es dauert einfach, bis man das komplett verinnerlicht hat, es bleibt eine komische Situation. Wie gesagt: Es ist Wettkampf zu Trainingsbedingungen, und dein Körper sagt: Hä? Obwohl man das ja in gewisser Weise schon kennt von Trainingsspielen gegen andere Klubs, bei denen kein Publikum da ist. Und wir haben natürlich auch schon oft im leeren Stadion trainiert.

Der Kölner Trainer Markus Gisdol fand, die Stimmung zwischen den Teams und den beiden Betreuerbänken sei "irgendwie gereizter" gewesen als sonst. Haben Sie das auch so empfunden?

Ich fand, es war genau umgekehrt. Ich habe noch nie ein so unhitziges Derby auf dem Platz erlebt. Auf dem Rasen war es extrem ruhig. Aber vielleicht war es zwischen den Bänken hitziger, weil jeder hören kann, was die anderen reinrufen.

Ihre Mannschaft ist insgesamt 120 Kilometer gelaufen, ein hoher Wert. Von oben sah das Spiel gar nicht so bewegt aus.

Aber es war intensiv und kam mir auch sehr, sehr anstrengend vor. Ich glaube, das lag daran, dass einen die Emotionen der Fans nicht tragen. Ansonsten war es aber auch einfach ein Spiel, in dem beide Mannschaften gut aufeinander eingestellt waren, weshalb es wenige Torraumszenen gab. Das hatte mehr mit der Taktik als mit den fehlenden Fans zu tun.

Manche Spieler haben vor dem Anpfiff in die leere Kurve gewinkt. Da sind die Rituale offenbar stärker als die Realität?

Ich weiß nicht, ob sie das aus Jux gemacht haben oder weil es ein Ritual ist. Macht nicht so viel Sinn, in die leere Kurve zu winken ... Aber wem das eine Gewohnheit ist, der soll es auch beibehalten.

Hat sich an diesem Abend eine Art Sinnfrage gestellt? Wie bedeutsam der Fußball - jenseits dessen, dass es Ihr Beruf ist - in der Gesellschaft ist?

Man muss in diesen Zeiten vernünftige Lösungen finden. Ohne Panik und Ängste zu verbreiten. Wenn zur Vernunft gehört, auf den Fußball zu verzichten, dann ist es richtig, und dann muss es gemacht werden.

Vor der Absage am Freitag sollte am Wochenende noch mal gespielt werden, bevor die Bundesliga bis Anfang April Pause macht. Diente Fußball bis zuletzt vielleicht auch als Beruhigungsmittel für eine Gesellschaft, in der viele vom Kampf gegen das Virus irritiert sind?

Kann sein. Viele Leute wissen nicht, wie sie mit diesem Thema umgehen sollen. Wenn der Fußball dazu beitragen kann, die Menschen für einen Moment abzulenken, ist das gut. Sky hatte ja sogar die Konferenzschaltung freigegeben. Dann hätte mancher Fan am Samstag ab 15:30 Uhr für zwei Stündchen vielleicht anderes im Kopf gehabt als Ängste und Ungewissheiten.

Möglicherweise soll nun die Europameisterschaft verschoben werden, damit die nationalen Ligen Zeit gewinnen, die Saison zu Ende zu spielen. Richtig so?

Ich vermag nicht zu sagen, was da jeweils dranhängt. Ich fände es schade, wenn die EM abgesagt oder verschoben würde, aber wenn die Liga abgebrochen würde, wäre das natürlich nicht besser. Es gibt ja keine Regelung, wie man das machen würde.

Der Tabellenstand käme Ihnen entgegen: Borussia Mönchengladbach steht im Moment als Vierter auf einem Champions-League-Platz.

Also wenn man die Liga stoppt, dann bitte jetzt, wenn wir gerade Vierter sind. Scherz.

Die Idee ist erst einmal die, die Liga bis zum 2. April pausieren zu lassen. Was tun in der langen Zeit?

Im Prinzip ist das dann wie in einer Länderspielpause. Die Zeit kriegt man immer gut rum. Man trainiert ganz normal weiter und kann ein bisschen durchschnaufen. Darin sehe ich kein Problem.

Haben Sie einen Buchtipp für die Kollegen, die jetzt plötzlich viel Freizeit haben?

Die Biografie von Dirk Nowitzki. Lese ich selber gerade, kann ich empfehlen.

© SZ vom 14.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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