Brasilien:Drei im unheimlichen Bund

Lesezeit: 3 min

Brasilien setzt bei dieser WM auf strenges Positionsspiel und die Präzision und Vehemenz seiner Offensivkräfte.

Ralf Wiegand

(SZ vom 27.6.02) - In der 53. Minute foult der türkische Mittelfeldspieler Tugay Kerimoglu den gegnerischen Angreifer Rivaldo. Brasilien darf einen Freistoß schießen. Die Entfernung, 25 Meter, verspricht Erfolg, weshalb viele Zuschauer im Stadion von Saitama sogleich ihre Fotoapparate hervorholen. D

Rivaldo nach einem seiner Kunstschüsse gegen die Türkei (Foto: N/A)

och dann nähert sich zielsicher aus dem Hintergrund der brasilianischen Reihen ein kleiner, glatzköpfiger Spieler, und jeder weiß, was geschehen wird. Der Mann schaut auf sein Ziel, nimmt acht Meter Anlauf, es gibt ein Blitzlichtgewitter und dann rauscht sein gewaltiger Torschuss - in die türkische Abwehrmauer. Schon wieder hat Roberto Carlos, 29, tausend Fotos ruiniert.

Die Nervensäge

Seitdem er 1997 beim Generalprobenturnier zur WM in Frankreich einen Freistoß aus 35 oder noch mehr Metern um die Ecke ins Tor geschossen hat, beansprucht Roberto Carlos in der brasilianischen Nationalelf und bei seinem Klub Real Madrid das Monopol auf Freistöße. Aus irgendeinem Grund wird er in seinem Privileg nicht beeinträchtigt, obwohl seine Trefferquote mäßig ist.

Der Mann ist möglicherweise eine ziemliche Nervensäge, auf jeden Fall ein Egoist auf dem Spielfeld, aber er ist auch ein ständiges Problem für all seine Gegenspieler, weil ihm gelegentlich unmögliche Dinge gelingen und er bei seinen irrwitzigen Flügelläufen wie ein Rennwagen beschleunigen kann. Für Bernd Schneider und Torsten Frings könnte es also ein verdammt mühseliger Sonntag werden.

Clash der Kulturen

Aber dieses Risiko bleibt unvermeidlich, wenn man sich im WM-Finale mit Brasilien anlegen möchte. Auf diese Premiere hat alle Welt lange gewartet: Die beiden erfolgreichsten Nationalteams auf dem Erdball, die unanfechtbaren Anführer der 68 Länder in der ewigen WM-Rangliste treffen sich bei ihrer ersten Endrundenbegegnung zu einer Entscheidung um Alles oder Nichts. Ein Clash der Fußballkulturen steht bevor.

Brasiliens Team hatte bei diesem Turnier bisher wenig gemein mit den historischen Vorgängern. Es fehlt ihm ein wenig an Flair, manches wirkt improvisiert, das allerdings auf der Grundlage überwältigender individueller Begabung. Aber was man der Elf an Unordnung und Desorganisation nachgesagt hat, das hat sie im Match gegen die Türkei nicht bestätigt.

Trainer Scolari traf Vorsorge für ein effizientes Flügelspiel, indem er den Angriff mit Ronaldo, Edilson und Rivaldo als hängender Spitze zu einem Dreieck formierte, das auf den Außenposten mehr Platz ließ für die Vorstöße von Carlos und Kapitän Cafú. Bislang hatten die Stürmer - Ronaldinho statt Edilson - bei ihren Rochaden oft eine Linie gebildet.

Dreimal "R" gegen die deutsche Abwehr

Diese Angreifer sind übrigens nicht ganz ungefährlich, und bei allem Respekt für Damien Duff, Patrick Mboma oder Landon Donovan, die in den vorigen Spielen die Wege von Christoph Metzelder und Thomas Linke gekreuzt haben - es wird vermutlich etwas schwieriger werden für die deutsche Deckung gegen die Giganten Ronaldo, Ronaldinho und Rivaldo.

Ronaldo geht aus seiner Leidenszeit zwischen den Turnieren 1998 und 2002 so frisch und munter hervor, als hätte er einen langen, langen Schlaf gehalten. Vielleicht ist er sogar noch torgefährlicher als früher, weil er schneller den Abschluss sucht. Rivaldos Schusstechnik ist einzigartig. Oft schießt er nicht, sondern er schaufelt und schlenzt, aber das mit Präzision und Vehemenz.

Ronaldinho, der sich in den vergangenen Monaten bei Paris St. Germain zu einem großen Versprechen entwickelt hat, ist der Dritte im unheimlichen Bunde, und wenn es Carsten Ramelow gelingen sollte, eine wirksame Gegenwehr gegen diese Bedrohung zu organisieren, dann soll er künftig Ramelinho heißen.

Kleiner Torwartvorteil für Deutschland

Im Tor hat das deutsche Team zwar einen Vorteil, aber auf den braucht sie keine allzu großen Hoffnungen zu setzen. Marcos übertrifft seinen Vorgänger Taffarel und hat keine Schwächen gezeigt. Der trügerische Eindruck von Unordnung im Team geht aus Brasiliens Abwehrzentrum hervor, wo Lúcio beizeiten den Ball mit der Hacke aufnimmt, anstatt sich für die einfache Methode zu entscheiden. Aber seine aus Leverkusen bekannten Vorstöße versagt er sich in der Nationalelf weitgehend.

Lúcio und Edmilson werden physisch und technisch starke Gegner für Klose und Neuville sein. Wenn es manchmal so aussieht, als gäben die Brasilianer weite Teile des Territoriums preis, dann liegt das im übrigen an dem strengen Positionsspiel.

Charisma und besondere Klasse fehlt nur im zentralen, defensiven Mittelfeld, in dem Emersons Ausfall eine Lücke hinterlassen hat. Hier ließen Gilberto Silva und Kleberson den Türken oft mehr Platz zur Entfaltung als gesund ist. Aber in dieser Zone beklagen nach Ballacks Ausfall auch die Deutschen eine Lücke. Sollte also irgendjemand immer noch behaupten, die deutsche Mannschaft habe bisher keinen Gegner der Spitzenklasse gehabt - hier ist er.Philipp Selldorf

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: