Bahnrad:Die Ruhe im Sturm

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Zentimeter-Entscheidung: Stefan Bötticher (links) setzt sich im Keirin-Rennen gegen den Briten Jack Carlin durch. (Foto: John Walton/AP)

Sprinter Stefan Bötticher gewinnt Gold zum EM-Abschluss und vollendet einen gelungenen Auftritt der Bahnradfahrer.

Von Volker Kreisl, Glasgow

Das letzte Finale näherte sich dem Höhepunkt: Keirin, vorletzte Runde. Der Krach in der Halle schwoll an, die sechs Sprinter belauerten sich bei 60 Stundenkilometern und rangelten um die besten Plätze im Windschatten auf halber Höhe in den Steilkurven. Auch unter den Trainern kam jetzt Hektik auf, es ging ja hier ums letzte Gold von Glasgow, nur einer blieb ruhig.

Detlef Uibel ist Bundestrainer und verantwortlich für Stefan Bötticher, der sich gerade mitten im finalen Sprintwirbel in der Bahn befand. Das war doch kein Problem, sagte Uibel später: "Da konntest du gemütlich zugucken."

Denn der 26-jährige Bötticher tat das, was einen guten Sprinter von einem Siegsprinter unterscheidet: Er hatte nicht nur die Beine für einen famosen Schlussspurt, er hatte diesen auch am besten vorbereitet. Schon auf der gegenüberliegenden Geraden stand er hoch über den anderen in Position, zog an und schob sein Vorderrad noch rechtzeitig an den Gegnern vorbei.

Es war seine zweite Medaille bei der Europameisterschaft, und nicht nur Bötticher, die gesamte Abordnung der Bahnradfahrer des deutschen Verbandes BDR schwankte nach diesem sechs Tage langen Auftritt in Glasgow zwischen Verblüffung und großer Erleichterung. Das Team hatte manche offene Fragen vor dieser EM, auch einige ehrgeizige persönliche Projekte, und am Ende kann man sagen: Es ist alles aufgegangen. Insgesamt holte die BDR-Mannschaft auf der Bahn drei Gold-, zwei Silber- und fünf Bronzemedaillen.

Sportlich die größte Überraschung waren neben dem Goldgewinner Bötticher auch Domenic Weinstein, der neue Europameister in der langen Verfolgung, und natürlich die Alles-Fahrerin Lisa Brennauer aus Kempten. Ihr ehrgeiziges Projekt besteht darin, an vier Rennen teilzunehmen, zwei auf der Bahn, zwei auf der Straße. Das kommt bei großen Radsport-Meisterschaften schon mal vor, dass aber jemand wie Brennauer bei den ersten drei Wettbewerben schon Gold und zweimal Bronze holt, das ist auch unter vielstartenden Radfahrern eine Seltenheit. Das vierte, das Straßen-Zeitfahren, beginnt am Mittwoch um 10 Uhr deutscher Zeit.

Bei der Bilanzierung der Bahn-Tage von Glasgow waren alle Deutschen erleichtert, und das lag auch an der schweren Zeit zuvor. Der tragische Sturz von Olympiasiegerin Kristina Vogel, ihre schwere Rückenverletzung, hatten das Team stark beschäftigt und werden dies wohl auch weiterhin tun. In Glasgow aber gelang es, den Alltag im Wettkampf fortzusetzen, und die Verarbeitung des Unglücks auf der Bahn von Cottbus von aktuellen Anforderungen zu trennen. Vor allem Miriam Welte, die seit zwölf Jahren mit Vogel ein Sprint-Duo gebildet hat, kam ein wenig aus ihrer Trauer heraus, als sie zum Auftakt mit Emma Hinze Dritte in der Teamverfolgung wurde. "Diese Bronzemedaille war ein ganz wichtiger Schritt", sagt Uibel.

Es folgten Medaillen in fast allen Disziplinen, die auf dem Holz-Oval im Chris Hoy Velodrome ausgetragen wurden. Weitere Höhepunkte für den BDR waren am Montag die Silbermedaille von Theo Reinhardt (Berlin) und Roger Kluge (Eisenhüttenstadt), zudem auch schon die Silbermedaille von Bötticher, der nun die drohende Lücke im Männer-Sprint schließt. Bötticher ist ja schon eine Weile dabei, hin und wieder, erinnert sich Uibel, habe man leise Zweifel an ihm aus dem Umfeld vernommen, aber trotzdem an Bötticher festgehalten. In Glasgow hat der Chemnitzer nun neben Talent auch Wettkampfhärte gezeigt: Schon im Halbfinale zu seiner Silbermedaille im Sprint war er gestürzt, wieder aufgestanden, hatte seine Pedale richten lassen und fuhr noch ins Finale. Dass es wegen eines Taktikfehlers später nicht zu Gold reichte, war für Uibel zweitrangig. Er sagt: "Stefan ist ein Glücksfall."

Besonders früh befinden sich die Bahnradfahrer ja schon in der Qualifikation für die nächsten Olympischen Spiele. Alle Halbfinal-Plätze dieser EM zählen bereits für die Zulassung für Tokio 2020 und ersparen dem Tross vielleicht die anstrengende Tour zu den Übersee-Weltcups. Außerdem nehmen sie den Erfolgsdruck von den vielen jüngeren Fahrern im Team, wie zum Beispiel von Emma Hinze, 20, die nun an der Seite von Welte fährt, und auch schon EM-Bronze gewonnen hat.

Hinze ist drei Jahre jünger als der dritte neue BDR-Europameister, Domenic Weinstein. Er hatte am Sonntag die 4000 Meter-Einer-Verfolgung gewonnen. Auch er steht für den Aufbruch des Verbandes, ist schnell in der Bahn, hat aber bei der Aufarbeitung von Überraschungserfolgen sein eigenes Tempo. Manche sind ja schon beim Umziehen wieder beim nächsten Medaillenprojekt; anderen dämmert nach ein paar Tagen, was gelungen ist. Aber das ist nichts gegen den Schwarzwälder Weinstein, der die Verarbeitungszeit seines Durchbruchs wie folgt taxierte: "So richtig realisieren werde ich das erst, wenn ich mal Familie habe und auf die alten Zeiten zurückblicke."

© SZ vom 08.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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