Argentinien:Die Künstler müssen Schach spielen

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Argentiniens Techniker geraten beim 2:1 gegen Mexiko stark in Bedrängnis, schöpfen aber Mut - die Mannschaft offenbart Charakter.

Peter Burghardt

Zwei der bedeutendsten Geburtstage der argentinischen Gegenwart waren bereits vorbei, als im Renaissance Hotel zu Leipzig die leicht verspätete Feier begann. Juan Roman Riquelme hatte am Samstag sein 28. Lebensjahr begangen, Lionel Messi sein 19., doch beide mussten zu ihrem Jubiläum länger arbeiten als erwartet, dem Zentralstadion entkamen sie erst weit nach Mitternacht.

Maxi Rodriguez zum 2:1: eine Gelegenheit, die eigentlich keine war. (Foto: Foto: dpa)

Die kleine Party am frühen Sonntag galt dann auch nicht allein dem diesmal müden Spielmacher Riquelme und dem aufgeweckten Stürmer Messi, sondern vor allem dem Sieg über ein Trauma. Vorübergehend lief die bisher beste Mannschaft dieses Turniers ernsthaft Gefahr, erneut viel zu früh nach Hause fahren zu müssen.

Schreckliche Partie

"Die Partie war schrecklich, aber mit einem glücklichen Ende", berichtete Stürmer Hernan Crespo, nachdem in der Verlängerung 2:1 gegen Mexiko gewonnen und das Viertelfinale gegen Deutschland erreicht war. "Wir haben sehr gelitten", vielleicht tat ihnen das auch gut so.

Spätestens hinter der Blechtür am so genannten Sportlerbereich Nord-Ost der sächsischen Arena wussten die Männer vom Rio de la Plata, dass sie soeben ihren ersten Härtetest bestanden hatten nach den Vergnügungen der Gruppenspiele.

In diesem Viertelfinale erfuhr das Ensemble in den himmelblauweißen Trikots, dass es nicht durch die Weltmeisterschaft tanzen kann wie beim 2:1 gegen die Elfenbeinküste oder dem 6:0 gegen Serbien/Montenegro. "Man kann nicht immer brillant spielen und viele Tore schießen", verkündete Trainer Jose Pekerman, der im Gesicht noch schmaler geworden zu sein scheint, "die WM ist kein Wunschkonzert."

Landsmann und Kollege Ricardo La Volpe unterband mit seinen Mexikanern ihr geliebtes Kurzpassspiel und brachte sie über die Flügel anfangs in erhebliche Schwierigkeiten, Rafael Marquez beschwerte ihnen erstmals einen Rückstand. Wer allerdings auch solche Proben besteht, der zeigt Reife.

"Die Mannschaft hatte keine Ideen", schreibt die Zeitung La Nacion, "aber Charakter." Diesmal mussten Pekermans Künstler beweisen, wie sie mit Gegnern umgehen, die ihnen nicht den Platz lassen wie Westafrikaner und Serben.

Auch für deutsche Beobachter wird das sehr interessant gewesen sein. "Das war ein Schachspiel, gut zu analysieren", erläuterte Crespo, anfangs standen dabei manche argentinischen Figuren falsch.

Geburtstagskind Riquelme trabte trotz vereinzelter Geniestreiche seltsam träge über den Platz und wirkte sehr deprimiert, selbst einfache Zuspiele gingen ins Leere. Er konnte froh sein, Leibwächter Javier Mascherano an seiner Seite zu haben, einen der besten Defensivspieler dieser WM.

Maxi Rodriguez verirrte sich zunächst auf der linken, seiner schlechteren Seite, und kehrte erst nach Seitenwechsel in seinen natürlichen Lebensraum zurück. Der rechte Außenverteidiger Lionel Scaloni, Ersatz für den verletzten Nicolas Burdisso, wirkte desorientiert und musste sich von Gonzalo Pineda den Ball durch die Beine schieben lassen.

Manndecker Gabriel Heinze war unpässlich und begünstigte Marquez' Treffer zum 0:1, für sein Foul kurz vor der Pause an Jose Fonseca hätte ihn der Schiedsrichter vom Dienst suspendieren müssen,immerhin verteidigte Partner Roberto Ayala brillant.

Mit Ruhe und Gelassenheit

"Aber wir haben das aus vollem Herzen umgedreht", fand Crespo, und Pekerman schwärmte: "Wir haben fußballerische Möglichkeiten in Schlüsselsituationen."

Mit Ruhe und Gelassenheit entdeckten sie die Züge, die nur wenige kennen. Crespos Ausgleich nach acht Minuten und Riquelmes Eckstoß brachte die Favoriten schnell ins Spiel zurück, danach warteten sie ohne Anfälle von Panik bis zur 98. Minute, ehe Maxi Rodriguez mit seinem sagenhaften Volleyschuss eine Gelegenheit nutzte, die eigentlich keine war.

Im nasskalten Spätherbst von Buenos Aires ging bei sechs Grad ein millionenfacher Schrei durch die Prachtstraßen bis zum Obelisken, auf der Tribüne verkörperte die nationale Erleichterung wie üblich Diego Maradona, der seine Nachfolger 20 Jahre nach seinem Triumph zum Titel fuchteln möchte.

"Kompliziert" sei das Spiel gewesen, sprach der Meister hinterher, "aber Argentinien hat Geschichte, und am Ende sieht man das auf dem Spielfeld." Vor allem hat Argentinien fantastische Alternativen auf der Bank, auch wenn sich Pekerman für seine Reaktion mehr Zeit ließ, als mancher Beobachter für nötig hielt.

Plädoyer für Messi

Erst als das hartnäckige Unentschieden bereits auf eine halbe Überstunde hindeutete, schickte er endlich Carlos Tevez und Lionel Messi. "Mit unseren Globetrottern war es ein bisschen einfacher", fand Crespo.

Globetrotter werden Tevez und Messi von ihren Mitspielern genannt, weil sie auch ohne regelmäßige Einsätze die Attraktionen des Teams geworden sind. Kein anderes Aufgebot dieser WM hat solche Reservisten zu bieten, und das Tückischste ist, dass zwei der schnellsten und trickreichsten Angreifer des Planeten meistens dann eingreifen, wenn ihre Gegner bereits müde sind.

Barcelonas Messi führte ein paar Haken vor, die bloß durch körperliche Gewalt zu stoppen waren und einen Rasen, auf dem Filigrantechniker wie er ständig ausrutschen. Auch an der Einleitung von Maxis Tor war Messi beteiligt, Einzelkämpfer Tevez versuchte es wie gewohnt allein.

Zumindest einer von beiden dürfte gegen Deutschland früher dabei sein - "ich würde Messi aufstellen", rät Maradona, "fragt sich, wen du raus tust." Es könnte Javier Saviola sein, der in der Vorrunde noch einer der besten Argentinier war und sich diesmal ständig verzettelte. "Wir haben viele Varianten", sagte Pekerman. "Wir wissen, dass wir Spieler haben, die Champions sind."

So richtig wussten sie es erst, als endlich Schluss war und der Vergleich mit Alemania fest stand, als Ersatzspieler und Betreuerstab auf den Platz stürmten, die Profis ihre Hemden schwenkten und die Anhänger ihre Fahnen und Tücher.

"Argentina es un sentimiento", sangen sie, "no puedo parar." Argentinien ist ein Gefühl, ich kann es nicht stoppen. Und irgendwann fiel dann auch Juan Roman Riquelme und Lionel Messi wieder ein, dass sie gerade ein Jahr älter geworden waren.

© SZ vom 26.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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