Ancelottis letztes Bayern-Spiel:Der Rotationsgenerator wird abgeschaltet

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Viel Prominenz als Zuschauer in Paris: Hummels, Coman, Robben, Ribéry und Rafinha erlebten den Anpfiff auf der Bank. (Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

Der entlassene Trainer ist sich bis zum Schluss treu geblieben: Er hat so gut wie nichts erklärt - und große Rätsel hinterlassen.

Von Claudio Catuogno, Paris

Den engagierten Reporter aus Nigeria kannte der Bayern-Trainer Carlo Ancelotti noch vom Tag vor dem Spiel. Da hatte der Mann von Ancelotti wissen wollen, ob er mit seiner Entlassung rechne, sollten seine Bayern gegen Paris Saint-Germain verlieren. Entlassung? "Das ist eine harte Frage", sagte Ancelotti - und lachte. Entlassung, nein, das denke er nicht, entgegnete Ancelotti dann, aber "ich bin froh, dass sich die Leute in Nigeria Gedanken über mein Leben machen".

Und nun hatte sich der Nigerianer also wieder das Mikrofon reichen lassen, die Pressekonferenz nach dem Spiel in den Katakomben des Parc des Princes, die nächste ungewöhnliche Frage: "Sie haben heute ihre besten Spieler draußen gelassen - war das, weil Sie vorher schon wussten, dass Sie sowieso verlieren werden?"

Es hat ein bisschen gedauert, bis Ancelotti diese Frage verstanden hat, das nigerianische Englisch und das italienische Englisch sind allenfalls sehr entfernt miteinander verwandt. Aber nach ein paar Wiederholungen machte es klick. "No", entgegnete Ancelotti diesmal, anders als noch am Vortag lag diesmal nicht die kleinste Spur Amusement in seiner Stimme. "Verlieren? No! Ich dachte, wir können heute gewinnen."

Die Frage, ob der Bayern-Trainer die Partie abgeschenkt habe angesichts offensichtlicher Ausweglosigkeit, mag abwegig sein. Ein Problem war aber schon, dass überhaupt jemand auf diese Idee kommen konnte. Denn natürlich stellte sich gleich nach Verkündung der Aufstellungen die Frage: Wann, wenn nicht gegen den 466-Millionen-Euro-Sturm von PSG, würde sich eine Innenverteidigung aufdrängen, die der zu erwartenden Angriffswucht mit der Autorität und Erfahrung eines gemeinsam gewonnenen WM-Finales entgegentreten kann? Also: Müssten es nicht zwingend Mats Hummels und Jérôme Boateng sein, die es mit Neymar, Kylian Mbappé und Edison Cavani aufnehmen?

Doch Boateng saß nur auf der Tribüne, sein Reha-Plan nach überstandener Adduktorenverletzung sah das angeblich so vor. Am Freitag beim 2:2 gegen Wolfsburg hatte Boateng noch 90 Minuten lang mitgewirkt. Und Hummels? Saß auf der Bank. Im wichtigsten Spiel des Halbjahres, das der Vorstandschef des FC Bayern, Karl-Heinz Rummenigge, doch gerade erst als wegweisende Standortbestimmung ausgerufen hatte, gar als Entscheidungsschlacht im Kulturkampf "altreich" (Bayern) gegen "neureich" (PSG).

Ein Trainer, der das so entscheidet, sollte in der Lage sein, eine Erklärung mitzuliefern. Aber das ist ja mehr als ein Jahr lang ein Merkmal des Trainers Ancelotti in München gewesen: Er hat so gut wie nichts wirklich erklärt. Seine Vita - drei Champions-League-Siege als Trainer - musste als Erklärung reichen. Warum er Hummels auf die Bank rotiert hatte? "Das ist das Leben in einem Topklub", warf Ancelotti nun auch dem aufmüpfigen Nigerianer bloß ein paar Allgemeinplätze hin, "wir müssen rotieren. Rotation ist gut. Ich habe Vertrauen in alle. Alle verdienen es zu spielen."

Es klang, als halte Ancelotti das tatsächlich für eine unabwendbare Notwendigkeit, als zwinge ihn ein irgendwo an der Säbener Straße verbauter Rotationsgenerator, immer schön sein Personal durchzutauschen - und diesmal spuckte der Generator eben die Verteidiger Javi Martinez und Niklas Süle aus. Kannstdunichtsmachen. Ancelotti zuckte jedenfalls bloß leicht mit den Schultern, als jemand von ihm wissen wollte, ob eine Elf nicht gerade in großen Spielen von einer eingeübten Struktur und einem bewährten Gerüst zehre. "Wir haben vier fantastische Innenverteidiger, letztes Mal haben Jérôme und Mats gespielt, und heute haben Martinez und Süle ein sehr gutes Spiel gemacht. Sie waren die besten Spieler auf dem Platz."

Mal abgesehen davon, dass das nicht alle so sahen: Man mag sich besser nicht vorstellen, dass Ancelotti seinen Paris-Plan intern ebenfalls bloß mit diesen dürren Versatzstücken erläutert hat; und noch weniger will man sich vorstellen, dass Ancelotti am späteren Abend oder am nächsten Tag auch Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge versicherte, was er nun im Presseraum sagte: "Ich bereue nichts." Da war er wohl schon nicht mehr zu retten.

Niklas Süle war jedenfalls immer irgendwie in der Nähe, wenn die Pariser Angreifer mit ihren Konterwellen über die Bayern-Abwehr hinwegschwappten. Beim 0:1 gleich in der 2. Minute konnte auch er den feinen Pass nicht verhindern, den Neymar rechts rüber zum ungedeckten Dani Alves spielte. Vor Cavanis 0:2 ließ er sich von Mbappé überrumpeln (31.), und beim 0:3 brachte er seine 89 Kilo Körpermasse auch nicht rechtzeitig in Stellung, um nach einem Martinez-Stolperer Neymars 3:0 noch zu verhindern (63.). Für den Verteidiger, der im Sommer aus Hoffenheim nach München kam, war es erst das zweite Champions-League-Spiel seiner Karriere.

L'Équipe widmete ihm prompt einen Schwerpunkt, Tenor: der überforderte Hummels-Vertreter, der von Ancelotti in diese Partie geworfen wurde, obwohl man doch Hummels gar nicht hätte vertreten müssen. Das mag ein bisschen unfair sein, Süle ist ja immerhin auch Nationalspieler, er hat die Bayern 20 Millionen gekostet. Niemand weiß, wie das Spiel mit Hummels gelaufen wäre, oder mit Robben und Ribéry - oder vor allem ohne das frühe Gegentor, das ohnehin alle Pläne vorläufig über den Haufen warf, weil sich PSG nun zurückziehen und gelassen auf Kontermöglichkeiten warten konnte.

Nein, Carlo Ancelotti hat seinen Job nicht verloren, weil er Niklas Süle vertraut hat. Er ist halt alles in allem nicht mehr zu verstehen gewesen, dieser Trainer, nicht nur für Nigerianer.

© SZ vom 29.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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