"Alle noch in der Entwicklung":Schmerzhafte Feldversuche

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Nicht einmal die Polen haben mehr Angst vor der deutschen Elf. Nun muss Klinsmann noch einmal aus einem verzagten Häuflein eine Mannschaft machen.

Christof Kneer

Nach dem Spiel stand der Trainer drunten in den Stadionkatakomben, und er sah nicht besonders glücklich aus. Er sah aus wie einer, der weiß, dass er jetzt ganz genau aufpassen muss, was er sagt.

Manchmal schmerzt das Zuschauen: Jürgen Klinsmann nach der Pleite in Italien. (Foto: Foto: AP)

Er druckste herum, überlegte ein bisschen, druckste noch einmal und sagte dann: "Viele meiner Spieler sind noch nicht so weit. Sie müssen noch hart arbeiten, um bei der WM zu bestehen."

Doch, doch, es gibt noch gute Nachrichten für den deutschen Fußball, und wenn sie schlau sind beim Deutschen Fußball-Bund (DFB), dann ziehen sie sich die Katakombenszene auf Kassette und schauen sie so oft an, bis sie diese herrlichen Sätze auswendig können.

Bei dem Originalsprecher handelt es sich nämlich um einen grauhaarigen, etwas bekümmert dreinblickenden Mann namens Pawel Janas. Der bekümmerte Mann ist der Trainer der polnischen Fußball-Nationalmannschaft, und er hatte soeben ein Testspiel verloren, mit 0:1 gegen die USA.

Das Schöne an diesem bekümmerten Mann ist, dass er den Deutschen bei der Fußball-WM im Sommer wieder begegnen wird.

Die Kunst des Sezierens

Seine Polen sind einer der drei deutschen Gruppengegner in der Vorrunde, und wenn sie im DFB-Hauptquartier in Frankfurt/Main mit der lustigen Kassette fertig sind, könnten sie zur weiteren Erbauung noch ein paar Ergebnislisten lesen.

In einer steht zum Beispiel, dass der Gruppengegner Ecuador am Mittwoch ebenfalls ein Testspiel verloren hat, mit 0:1 in Holland. Und eine andere Liste beweist, dass auch der Gruppengegner Costa Rica gerade ziemlich unglücklich ist, wegen einer 2:3-Niederlage in Iran.

So weit ist es gekommen im Ausrichterland dieser heiligen Fußball-WM, dass man sich jetzt schon am Leid der anderen weiden muss.

Zum Weiden ist ja sonst nicht mehr viel übrig geblieben nach der Furcht erregend blamablen 1:4-Niederlage beim Länderspiel in Italien, und man wird wohl davon ausgehen dürfen, dass demnächst auch in Polen, Ecuador und Costa Rica eine Videokassette kursiert.

Auf jener Kassette wird ein blonder, etwas bekümmert dreinblickender Mann namens Jürgen Klinsmann zu sehen sein, und er wird Sätze sagen, die ungefähr so klingen: "Viele meiner Spieler sind noch nicht so weit. Sie müssen noch hart arbeiten, um bei der WM zu bestehen."

Ja gut, ganz so würde es Jürgen Klinsmann vielleicht doch nicht sagen, er spricht ja keine Fußballtrainersätze. Jürgen Klinsmann ist ja kein klassischer Fußballtrainer, er ist Leiter des Projekts 2006, und er spricht Projektleitersätze.

Das ist praktisch, weil er sich selbst in dunkelsten Stunden auf seine Schablonen verlassen kann, welche er griffbereit in seinem Projektleiter-Zubehör mit sich führt, und so hat er auch am Ende dieses schrecklichen Abends wieder gesagt, dass "wir nach vorne schauen und wieder angreifen werden".

Die Enttäuschung stand ihm großflächig in seinem Projektleitergesicht, aber er hat trotzdem noch gesagt, dass "wir diese Herausforderung mit voller Überzeugung annehmen".

Reformator im Probelauf

Wenn man nicht aufgepasst hätte, wäre einem der Satz des Abends womöglich durchgerutscht. "Wir sind alle noch in der Entwicklung", sagte Klinsmann, "ich selbst bin da keine Ausnahme."

Zwanzig Monate verantwortet Jürgen Klinsmann jetzt das, was Deutschland bei der Fußball-WM vertreten soll, aber diesen Satz hatte man bisher noch nie gehört.

Bisher galt es als eine Art Geschäftsgrundlage, dass der große Reformator gelegentlich von seinem Wohnsitz in Huntington Beach/Kalifornien herübergejettet kommt, um dem rückständigen Europa die neuen Zeiten zu erklären.

Manchmal hatte er ein paar Fitnessgurus im Handgepäck, er verlegte WM-Quartiere, stornierte Länderspielreisen, kappte Netzwerke. Er ließ Psychologen einfliegen und stellte Spieler nicht mehr auf, von denen man dachte, ihnen sei der Einsatz grundgesetzlich versprochen.

In der Tat hat sich Klinsmann schon jetzt ewige Verdienste erworben, weil er diesem Verband den Hang zur geschlossenen Gesellschaft ausgetrieben hat.

Hinein ins DFB-Machtzentrum durfte bis vor kurzem nur, wer sich am Eingang mit dem nötigen Stallgeruch ausweisen konnte, und man darf es Klinsmann hoch anrechnen, dass er kräftig durchgelüftet hat.

Klinsmann kann nur Klinsmann

Richtig schöne Projektleiterprojekte waren das. Noch nie aber ist so deutlich geworden wie an diesem ernüchternden Mittwochabend, dass das entscheidende Projekt - nämlich jenes auf dem grünen Rasen - immer noch von einem Berufsanfänger verantwortet wird.

Jürgen Klinsmann ist nie zuvor Trainer gewesen, und er hat das am Mittwoch zum ersten Mal einer breiten Öffentlichkeit gestanden.

"Wir sind alle noch in der Entwicklung", hat er also gesagt, "ich selbst bin da keine Ausnahme."

Jürgen Klinsmann ist gar kein Projektleiter, wahrscheinlich ist das die neue Nachricht, die dieser Abend enthielt. Jürgen Klinsmann ist selbst noch ein Projekt, er ist selbst Teil des Entwicklungsprozesses.

Er muss erst noch lernen, wie man eine Mannschaft baut; wie man sie taktisch richtig einstellt; wie man einen Gegner seziert und sodann eine Kriegslist ersinnt. Jürgen Klinsmann hat keine anderen Spieler, er hat keine zweite Mannschaft, das kann ihm keiner zum Vorwurf machen.

Aber er hat keinen zweiten Plan. Klinsmann kann nur Klinsmann.

Klinsmannschaft im Tunnel

Gemeinsam mit Assistent Joachim Löw, seinem Taktikflüsterer, hat er der Mannschaft vom ersten Tag an eine amerikanische Go-for-Gold-Philosophie eingesungen und am Reißbrett eine offensive Spielstrategie entworfen, und die zieht er radikal durch - auch auf die Gefahr, seine junge Elf zu überfordern.

An schlechten Tagen kann die Mannschaft an diesem Anspruch zerbrechen, man hat das nie so gut begriffen wie bei diesem Spiel in Florenz. Die Abwehrspieler sind immer tapfer nach vorne gelaufen, weil Klinsmann und Löw das so predigen, nur leider haben sie dabei manchmal ein paar Gegenspieler vergessen.

In der Theorie haben ihnen Klinsmann und Löw ein wunderschönes Gerüst gebaut - in der Praxis war es aber so, dass sich die wankende Mannschaft nirgendwo festhalten konnte.

In der Praxis war dieses Spiel nichts anderes als Harakiri; statt seine junge Abwehr mit einem dichten Mittelfeld zu beschützen, hat Klinsmann das Mittelfeld so auseinander gezogen, dass die Italiener nur deshalb nicht in alle freien Räume hineinstießen, weil sie manche gar nicht glauben konnten.

Sätze, die nach Meuterei klingen

"Wir haben uns entblößt", sagte später der Innenverteidiger Metzelder über die schmerzhaften Feldversuche, "wenn die Außenverteidiger mit aufrücken, ist das für die Innenverteidiger schwer." Der Außenverteidiger Lahm sagte: "Wenn wir so spielen, dass alle nach vorne gehen, wird das gegen eine Mannschaft wie Italien bestraft."

Im normalen Fußballerleben sind das Sätze, die nach Meuterei klingen. Im unnormalen Projektleben dieser Reißbrett-Mannschaft ist das nichts anderes als ein Hilfeschrei.

Es ist nicht mehr zu übersehen, dass sich hier ein Trainer eine Mannschaft nach seinem Bilde formt. Jürgen Klinsmann hat ja auch als Spieler immer über die Emotion funktioniert.

Er ist nie ein filigraner Fußballer gewesen, er hat es geschafft, auf mysteriöse Weise immer besser zu sein als die Summe seiner Einzelfähigkeiten.

Natürlich ist es kein Zufall, dass er das beste Spiel seiner Karriere spielte, als er nichts mehr zu verlieren hatte. In Form eines bösen Schiedsrichters hatte ihm das Schicksal seinen Sturmkumpanen Rudi Völler weggenommen, damals, beim legendären Spuck-Spiel im Achtelfinale der WM 1990 gegen die Niederlande.

Klinsmann stürmte also trotzig alleine weiter, und er rannte in einer Halbzeit so viel wie andere ihr ganzes Profileben nicht. Er hat dann auch noch ein prächtiges Tor geschossen, welches vom Mitspieler Guido Buchwald noch prächtiger vorbereitet wurde, und wahrscheinlich ist genau das schon immer Klinsmanns hervorstechende Qualität gewesen.

An guten Tagen ist er ein radikaler Mitreißer, er kann sich und andere besser machen. An schlechten Tagen springt ihm radikal der Ball vom Fuß.

Die deutsche Nationalelf ist eine Klinsmannschaft. An guten Tagen kann sie sich an sich selbst entzünden und feurig stürmen, so wie beim Confederation Cup im vergangenen Sommer, als Klinsmanns Elf nur Brasilien unterlag und am Ende Dritter wurde.

An schlechten Tagen kann sie spielen wie in Florenz. Jürgen Klinsmann hat seine Mannschaft mitgenommen in seinen WM-Tunnel, und er will, dass am Ende des Tunnels eine Mannschaft herauskommt, die wie Jürgen Klinsmann aussieht.

Endspurt im Reizklima

Vielleicht ist der Tunnel das Problem. Vielleicht sieht Klinsmann zu selten aus seinem Tunnel heraus. Er sieht dann zum Beispiel nicht, wie die Bremer Mittelfeldspieler Torsten Frings und Tim Borowski in der Champions League Juventus Turin entzaubern.

Er setzt Borowski auf die Ersatzbank, er traut ihm nicht, weil Borowski ein eher leidenschaftsloser Typ ist und längst nicht so fokussiert wie früher der Spieler Klinsmann.

Jürgen Klinsmann weiß, dass seine Klinsmannschaft bei der WM nur dann eine Chance hat, wenn sie rechtzeitig eine Welle erwischt, die sie durchs Turnier trägt. Vielleicht müsste man diese Mannschaft vom Turnier abmelden, wenn das Turnier in Südafrika oder Brasilien oder sonstwo ausgetragen würde.

So aber darf Jürgen Klinsmann weiter hoffen, dass Euphorie und Eigendynamik diese keinesfalls unbegabte Mannschaft beflügeln, und Euphorie und Eigendynamik kann ja keiner besser als er.

Mut zum Mut

Er hat es schon einmal geschafft, eine tote Mannschaft zum Leben zu erwecken, im August 2004, direkt nach seiner Amtsübernahme. Er hat es geschafft, über die banale Emotion an eine Mannschaft heranzukommen, die nach der Europameisterschaft 2004 nur noch ein verzagtes Häuflein war.

Man hat damals förmlich zusehen können, wie die Wärme, die der treue Teamchef Rudi Völler in diese Mannschaft gepumpt hatte, zum Selbstzweck erstarrt war, und es hat die Mannschaft erfrischt, dass plötzlich ein Nachfolger namens Klinsmann kam und den Mut zum Mut hatte.

Ob Klinsmann es im Reizklima der letzten 100 Tage schaffen kann, noch einmal so an die Mannschaft heranzukommen, als wäre er sein eigener Nachfolger? Sicherheitshalber sollten sie beim DFB jene Stelle aus der lustigen Polen-Kassette herausschneiden, in der der gar nicht mehr bekümmert dreinblickende Polen-Trainer Janas sagt, vor dieser deutschen Elf müsse man "keine Angst haben".

© SZ vom 3.3.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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