23 Pflichtspiele, ein Sieg:"Null Punkte, rote Karte, ein Armbruch"

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Woche für Woche denkt man, der HSV wäre am Tiefpunkt angekommen, doch die Mannschaft findet immer wieder einen neuen Abgrund um sich hineinzustürzen. Nach dem 1:2 gegen Bochum proben die Fans die Rebellion - und lassen Trainer Doll dann doch unter Applaus weiterarbeiten.

Philipp Selldorf

"Haben Sie Zeit für ein paar Antworten?", fragte liebenswürdig der Radioreporter aus Norddeutschland. Bernd Hoffmann blickte ihn gequält an wie der Delinquent seinen Peiniger, der ihm weitere 50 Hiebe mit der neunschwänzigen Katze angekündigt hat.

Wenn den HSV noch jemand retten kann, dann Rafael van der Vaart. An diesem Samstag bekam er nach einer üblen Grätsche von hinten in die Beine des Gegenspielers die rote Karte. Ihm droht eine lange Sperre. (Foto: Foto: ddp)

"Immer wieder gerne", erwiderte der Präsident des HSV sarkastisch und ließ sich das Mikrofon unter die Nase halten, um Antworten auf das 1:2 beim VfL Bochum zu geben. Es wurde dann ein ziemlich einsilbiges Interview.

Flüstern und Murmeln

Hoffmann erklärte, dass die Situation schlimm sei, dass es zum Thema Trainer nichts Neues zu melden gebe, weil dazu alles gesagt sei, und auf die abschließende Frage, wie es denn jetzt weitergehe, verlor sich die Entgegnung des deprimierten Klubchefs in einem Flüstern und Murmeln, das selbst die unmittelbar neben ihm stehenden Zeugen kaum verstehen konnten. Angeblich lautete die Aussage: "Das einzige, das uns weiterhilft, sind Ergebnisse."

Die Ergebnisse des Hamburger SV sind weiterhin dergestalt, dass es immer noch schlimmer kommt als in der vorangegangenen Woche, als man dachte, jetzt könne es nicht mehr schlimmer kommen.

Am Samstag hat der HSV ja nicht nur gegen einen Konkurrenten im Abstiegskampf verloren, sondern auch Spielmacher van der Vaart wegen einer Roten Karte und den Aushilfslinksverteidiger Benjamin durch Verletzung.

So klagte Trainer Thomas Doll im Telegrammstil: "Jetzt fährt man nach Hause, null Punkte, rote Karte, ein Armbruch noch - das sind sehr schwere Zeiten."

Doch selbst mit dieser traurigen Lagebeschreibung hatte er den Schrecken noch nicht ausreichend ausgemalt: Der HSV fuhr gar nicht nach Hause. Er saß fest auf dem Parkplatz des Stadions an der Castroper Straße 145, weil einige Hamburger Fans den Ausgang blockierten. Nachdem zuvor bereits etliche Spieler die Getreuen im Gespräch zu besänftigen versucht hatten, war nun Doll an der Reihe, die protestierenden Anhänger zu demobilisieren.

Aberwitzige Bilanz

Das gelang ihm durch gutes Zureden, es gab sogar Beifall für den Trainer, der immer noch gern gesehen ist beim HSV. Trotz der aberwitzigen Bilanz von bloß einem Sieg in 23 Pflichtspielen erhält Doll unverändert die Unterstützung von Management, Mannschaft und Publikum, und wenn auch die Stimmung denkbar mies ist, so ist immerhin das Standvermögen der Beteiligten beeindruckend.

"Ich habe noch Kraft", versicherte Doll glaubhaft, aber die Hamburger Verschwörung gegen die ehernen Gesetze der Liga fällt zunehmend schwer: Liebend gern würden ihn ja seine Vorgesetzten weiterbeschäftigen. Doch sie brauchen Argumente dafür. Zwei Punktspiele bis zur Winterpause bleiben Doll, um sie zu liefern.

In Bochum stand die Hamburger Leidensgemeinschaft noch weitgehend geschlossen. Das Gros der Anhänger hält die Krise des Klubs tapfer aus, selbst nach dem Schlusspfiff gab es solidarische Gesänge der vielen Tausenden im Gästeblock. Es waren kaum weniger HSV- als VfL-Fans im Bochumer Stadion, und am Anfang sah es auch so aus, als ob sich der Besuch für die Gäste lohnen würde.

Dilettantismus

Was für eine Entschlossenheit und Leidenschaft die Hamburger Spieler aufboten! Allerdings nur sechs Minuten lang: Bis aufgrund eines schweren Anfalls von Dilettantismus in der Deckung das 0:1 fiel. Benjamin, Feilhaber und Mathijsen hatten sich durch einen Streich von Misimovic ausmanövrieren lassen, und bei Dabrowskis Schuss in die kurze Ecke sah Schlussmann Wächter gar nicht gut aus. Das also auch noch: ein Torwartproblem.

Das wesentliche Thema dieser Partie, das hat später Bochums Torhüter Skov-Jensen gesagt, war der rohe Kampf, und darin erwiesen sich die VfL-Profis einfach als besser geübt. Nicht, dass die Hamburger nicht alles gegeben hätten, aber während die Bochumer den Ball bei Bedarf rüde ins Aus grätschten oder ohne Rücksicht auf die ästhetische Note ziellos fortschlugen, versuchten es die Anderen mit flachen Kombinationen durchs Mittelfeld und feinem Kurzpassspiel im Angriff.

Anerkennenswert war der Eifer der Angreifer Guerrero und Ljuboja, tragikomisch der Ertrag. Einmal hatten sich die beiden mit doppeltem Doppelpass bis in den Strafraum gespielt, aber anstatt endlich das Tor anzuvisieren, setzte Ljuboja noch eine Pointe drauf - und schickte seinen Partner mit dem nächsten Pass ins Abseits.

So brachte ihre Spielkultur den Hamburgern lediglich zweifelhafte Komplimente ein. "Man sieht: Sie haben eine sehr gute Spielanlage, und sie haben auch die bessere Statistik im Ballbesitz gehabt", gab VfL-Profi Dabrowski zu, "aber am Ende zählt das Ergebnis. Und diese drei Punkte sind für uns unglaublich wichtig."

Vom Frust angestachelt

Entschieden wurde die Partie letztlich durch die beiden Männer, die in ihren Mannschaften als Schlüsselspieler gelten. Während Zvjezdan Misimovic durch sein wunderbares Freistoßtor zum 2:1 und viele weitere herrliche Momente glänzte, leistete Rafael van der Vaart zwar die Vorarbeit zu Ljubojas eher zufällig entstandenem 1:1, fiel ansonsten aber erst wieder durch das üble, ausschließlich durch Frust motivierte Foul an Bechmann auf.

Die Rote Karte, die er daraufhin schuldbewusst entgegennahm, dürfte seine Winterpause um viele Wochen verlängern: Die Sperre könnte bis in die Rückrunde reichen, es ist nicht sein erster Sündenfall. "Das darf ihm nicht passieren", kommentierte Doll erschüttert.

"Sicherungen durchgebrannt", befand Manager Beiersdorfer und kündigte eine Strafe an für den Kapitän, der sich seiner Untat immerhin aufrichtig schämte. Das ist allerdings keineswegs ein gutes Zeichen: Diese demütige Haltung ist beim stolzen HSV schon zur Routine geworden.

© SZ vom 4.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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