Mein Deutschland:Zwischen Frost und Herzlichkeit

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Die nestwärmende Ausstrahlung dient dazu, für eine Weile den Kummer zu vergessen.

Alessandro Melazzini

Holzhüttenartige Stände füllen derzeit die Marktplätze der deutschen Städte, man bummelt zwischen Lebkuchen, Schupfnudeln und pastellfarbenen Kerzen umher, Glühweinaroma und Waffelduft verbreiten sich in der Luft, überall ist gleichermaßen Frost und Herzlichkeit. Halbe-Meter- sowie echte Berliner Currywürste werden fröhlich verzehrt, Freunde treffen sich, und man wünscht sich, dass die Adventzeit ewig währen möge. Vor allem wünschen sich das die Standbesitzer, deren Ware trotz - oder dank - der Wirtschaftskrise sich immer größerer Beliebtheit erfreuen. Das war nicht immer so, denn, man mag es kaum glauben, die Christkindlmärkte waren ähnlich wie das Oktoberfest in den Siebzigern und frühen Achtzigern nicht sonderlich angesagt, sondern "uncool", wie man heute sagen würde.

Der Münchner Christkindlmarkt und das Rathaus strahlen während der Blauen Stunde in weihnachtlichem Lichterglanz. Mit der Eröffnung des zentralen Münchner Weihnachtsmarktes auf dem Marienplatz beginnt die Weihnachtszeit in der bayerischen Landeshauptstadt. (Foto: ddp)

Inzwischen aber scheint niemand mehr immun gegen den Zauber alpenländisch-käuflicher Weihnachtsniedlichkeit zu sein. Einheimische, Ruhrpöttler und Touristen aller Herren Länder strömen auf die Märkte von Nürnberg und Freiburg, während Berlin und Bremen für den Kampf um den letzten Besucher im Norden schnell aufrüsten. Insbesondere meine Landsleute haben die Magie von Winterdeutschland entdeckt, und trotz Schnee und klirrender Kälte pilgern sie zielgerichtet nach München, nicht zuletzt weil es am Marienplatz ziemlich einfach ist, zwischen Stollen und Germknödeln die spätrömischen Abenteuer der italienischen Politik auszublenden.

Weihnachtsmärkte stillen die Sehnsucht nach Authentizität und Tradition, die eine immer schnellere und technologisiertere Gesellschaft weckt. Die vorhersehbare und angstabbauende Wiederkehr der Märkte, ihre nestwärmende Ausstrahlung, all das dient dazu, den alltäglichen Kummer für eine Weile zu vergessen und eine Stimmung lustiger Verkindlichung zu schaffen, in die man sich für einige Stunden gerne versetzen lässt.

Natürlich dient die jährliche Belagerung der Altstädte mit professionell verzierten Ständen voller einladender Gemütlichkeit letzten Endes dazu, die traditionelle Romantik der deutschen Winteridylle in ein kommerzielles Event zu verwandeln. Trotzt plakativer Konsumorientierung aber scheint irgendwie der deutsche Christkindlmarkt noch einen Hauch von Innigkeit zu bergen, der es ihm ermöglicht, das Heilige und das Profane zur Zufriedenheit von Standbesitzern, Besuchern und Citymarketing harmonisch zu verbinden.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Alessandro Melazzini arbeitet als Kulturkorrespondent für die italienische Tageszeitung Il Sole 24 Ore.

© SZ vom 18./19.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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