Mein Deutschland:Zum Heulen

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Weinen in der Öffentlichkeit: für die Größen aus Politik und Wirtschaft kaum denkbar. Und wenn, dann nur für die Frauen.

Markus Sutter

Als Fernsehzuschauer ist einem manchmal zum (Mit-)Heulen zumute. Da bedient sich eine Kassiererin aus Berlin zweier Flaschenbons im Wert von 1,30 Euro und bekommt dafür die Quittung in Form einer Kündigung. Die Tränen, die die 50-Jährige ohne Job vor laufender Kameras vergoss, haben mir jedenfalls zugesetzt. Vielleicht auch deshalb, weil es in der Schweiz ganz anders ablaufen würde. Wer eine missliebige Mitarbeiterin los werden will, stellt sie einfach vor die Tür. Einen faulen Grund anzugeben erübrigt sich. Kündigungsschutz kennen wir Eidgenossen nur für Schwangere oder Kranke.

Maria-Elisabeth Schaeffler kamen bei einer Kundgebung zur Rettung ihrer Firma die Tränen. (Foto: Foto: ddp)

Auch bei der einstigen SPD-Hoffnungsträgerin Andrea Ypsilanti ("ich bin eine von Euch") lief das Augenwasser. Die moralische Siegerin der Wahlen in Hessen vom letzten Jahr hatte sich soeben von ihren Genossen verabschiedet. Und sogar Maria-Elisabeth Schaeffler begann zu schluchzen, als mehrere tausend verzweifelte Arbeiter des Konzerns auf einer Kundgebung staatliche Hilfe forderten.

Und die ganz großen Promis? Kanzlerin Angela Merkel beispielsweise hätte allen Grund für derartige Gefühläußerungen. Was sich die Chefin der Republik in letzter Zeit so alles anhören muss, geht über keine Kuhhaut, würde man in der Schweiz sagen. Alle stänkern an ihr herum. Noch mehr Konjunkturspritzen, wollen sie, noch mehr Staatsgeld für marode Banken und Firmen, noch weniger Steuern. Sie bleibt standhaft und sagt Nein. Statt ihr für ihre Hartnäckigkeit zu gratulieren, werden ihr mangelnde Führungseigenschaften und ein politischer Zickzack-Kurs vorgeworfen. Dabei ist sie eine der wenigen Vernünftigen unter den dauermeckernden deutschen Politikern.

Doch Merkel weint nicht. In der Öffentlichkeit markiert sie den standhaften Mann. Vielleicht aber bezahlt sie wie viele andere Politiker auch einen hohen Preis. Vor ein paar Tagen habe ich bei einem Besuch eines Opel-Werks ein "Jugendbild" der Kanzlerin entdeckt. Sie sah wie ihre eigene Tochter aus, obwohl das Foto erst zehn Jahre alt war.

Männlichen Managern aus der obersten Führungsetage hingegen scheint nichts anhaben zu können. Wer hat schon einmal einen weinenden Mann gesehen, der mit tränenerstickter Stimme eine aufgewühlte Belegschaft empfängt, deren Firma gerade die Tore schließen muss? Von Gefühlsregung keine Spur.

Vielleicht ist das sogar eine Grundvoraussetzung dafür, es bis ganz nach oben zu schaffen. Joe Ackermann und Co. strahlen noch im größten Krisenfall kerngesund und faltenlos um die Wette, als kämen sie geradewegs aus dem Solarium oder aus den Ferien in der - noch reichen - Schweiz. Diese Herren würde man durchaus gerne einmal weinen sehen.

Vier Korrespondenten schreiben an dieser Stelle jeden Samstag über Deutschland. Markus Sutter berichtet aus Berlin für die Basler Zeitung.

© SZ vom 14.03.2009/brei - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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