Mein Deutschland:Zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl

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Brav und schweigsam auf der Ersatzbank warten.

Alessandro Melazzini

Diese Woche war ich im Berliner Abgeordnetenhaus. Dass mein Interviewpartner jung sein würde, wusste ich: Mit 25 Jahren ist Sven-Christian Kindler von den Grünen der jüngste Oppositionspolitiker im Parlament. Überrascht hat mich dennoch, wie viele junge Menschen den Reichstag betraten, während ich, weil wieder einmal überpünktlich, lange wartete. Die einzigen älteren Menschen in der Eingangshalle waren die Männer von der Sicherheit. So gut wie kein Besucher, Politiker oder Assistent, der an mir vorbeilief, war älter als 35 Jahre.

Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi. Kaum ein anderer Regierungschef wäre nach all den Skandalen noch im Amt. Doch Silvio Berlusconi regiert Italien immer noch, scheinbar unantastbar. (Foto: dpa)

Es mag Zufall gewesen sein, dass an diesem Tag so viele junge Menschen freien Zugang zu einem solch wichtigen Ort hatten. Gewöhnlich hört man ja in Deutschland, was Kultur, Politik oder Wirtschaft angeht, sonst gerne auf das Wort von Achtzigjährigen wie Grass, Habermas, Helmut Schmidt. Im Vergleich mit diesen gesetzten Herren lassen in Italien die Vorlieben und die Freizeitbeschäftigungen des dynamischen Berlusconi nicht ahnen, dass auch er seit Jahren das ehrwürdige Alter von 70 überschritten hat. Denn der italienische Ministerpräsident fühlt sich immer noch zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl, und benimmt sich auch entsprechend.

Abgesehen von diesem Wunderburschen ist es aber in Italien ziemlich selten, junge Leute an der Spitze zu sehen, es sei denn ehemalige Showgirls à la Mara Carfagna, die wiederum die Gunst des Platzhirsches höchstpersönlich genießen kann und in die Regierung katapultiert wurde. Oder Industrielle à la John Elkann, die das Ruder von Opa Giovanni Agnelli geerbt haben. Das heißt nicht, dass die italienische Jugend weniger aktiv als die deutsche wäre, sondern nur, dass sie leider ganz wenige Chancen hat, sich in der Gesellschaft profilieren zu können. Stattdessen muss sie Jahrzehnte brav und schweigsam auf der Ersatzbank warten.

Immer weniger Menschen jenseits der Alpen aber wollen sich mit der Starrheit ihrer Gesellschaft abfinden. Eine neue Auswanderungswelle rollt: Junge italienischen Akademiker, die ihre Bildung überall dort einsetzen, wo man sie honoriert. Zum Beispiel in Deutschland, und oft in Berlin, nahe dem Ort, an dem Sven-Christian Kindler seine politische Karriere verfolgt.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Alessandro Melazzini arbeitet als Kulturkorrespondent für die italienische Tageszeitung Il Sole 24 Ore.

© SZ vom 22./23.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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