Mein Deutschland:Wer ist der böseste Mensch auf Erden?

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Christian Wulff - Verbissenheit in Deutschland. Gleichgültigkeit im Ausland.

Pascale Hugues

Wen würdest Du als "böse" einstufen? Begründe Deine Wahl. So lautet die Aufgabe für eine Arbeit in der zehnten Klasse einer Berliner Schule. Es folgt eine kurze Liste von Vorschlägen: Adolf Eichmann, ein Klassiker. Stalin/Hitler, im Tandem. Na, ja . . . Detlev S. (Kindermörder) und L. Ron Hubbard (Sektengründer), zwei handfeste Kandidaten. Andreas Baader? Ein Vater, ehemaliger Hausbesetzer in Kreuzberg, hat bereits angedroht, sich zu beschweren. Der Held der RAF in der gleichen Schublade wie Adolf Hitler, eine Unverschämtheit!

Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff winkt am 8. März 2012 vor Schloss Bellevue in Berlin beim Grossen Zapfenstreich zu seinen Ehren neben seiner Ehefrau Bettina. Wulff wurde mit dem Grossen Zapfenstreich, dem höchsten Zeremoniell der Bundeswehr, offiziell verabschiedet. (Foto: dapd)

Die Vorstellung von Gut und Böse ist subjektiv. Ich erinnere mich an eine Zugfahrt von London nach Edinburgh. Das war Mitte der achtziger Jahre. Wir fuhren durch die Bergwerksgegenden im Norden Englands, die damals seit Wochen von Streiks der Minenarbeiter gelähmt waren; ein letztes Aufbäumen des Klassenkampfes in jenem Großbritannien, das die Eiserne Lady auf Linie gebracht hat. In meinem Abteil: Ein Ehepaar und seine zwei Kinder. Der Vater hatte sich eine pädagogisch wertvolle Version des beliebten Kinderspiels "Ich sehe was, was du nicht siehst" ausgedacht. Es ging darum, auf die Frage zu antworten: "Wer ist der böseste Mensch auf der Erde?" "Adolf Hitler!" warf seine Tochter ohne zu zögern ein. Volltreffer! "Aber nein", erwiderte sein Bruder, ein Rotzbengel mit feuerroten Haaren. "Maggie Thatcher!" Gerührte Blicke der Eltern, die in der Labour Party aktiv waren.

Wenn es nach den Tresengesprächen in meinem Stammcafé ginge, könnte man derzeit glauben, dass Christian Wulff die Inkarnation des Bösen ist. Es wäre angenehmer, meine Zeitung ohne diese Geräuschkulisse aus moralischer Empörung und Häme zu lesen. Sein Rücktritt hat diese Wut nicht besänftigt, ganz im Gegenteil. Ihr Ex-Präsident liegt am Boden, und meine Tresenkameraden treten weiter: Ehrensold! Sekretärin! Daimler umsonst! Großer Zapfenstreich! Der Bild -Zeitung ist es ein sadistisches Vergnügen, den Volkszorn zu schüren.

Wieso diese Verbissenheit? Wieso blättert man nicht einfach weiter und lässt die Justiz ihre Arbeit machen? Ich erinnere mich nicht, dass irgendein Politiker in diesem Land jemals so gnadenlos in der Öffentlichkeit "hingerichtet" wurde. Die Politik ist in Deutschland ein mitleidloser Zirkel. Bewerber seien gewarnt. Bevor sie sich in den Kampf stürzen, sollten sie sich versichern, dass ihre Konten ohne Fehl und Tadel sind und ihre Freundschaften sorgfältig ausgesucht! Sogar ihre Betten müssen weiß sein wie die Tugend. Kein Verstoß sei ihnen verziehen.

Die Gewalt der Polemik in Deutschland steht diametral entgegengesetzt zu der völligen Gleichgültigkeit, auf die die Affäre Wulff im Ausland stößt. Wulff hat sich unmöglich verhalten. Sicherlich ist er stur, blind, unverschämt und zum Schluss fast provokativ gewesen. Vom anderen Ufer des Rheins aus gesehen, handelt es sich aber trotz allem nur um Mini-Machenschaften. Keine Korruptionsaffäre mit staatlichen Dimensionen.

Die europäischen Politikkorrespondenten werden ein etwas verwaschenes Bild im Gedächtnis behalten, von einem wenig berauschenden deutschen Präsidenten, der beherzt gegen die Verfolgung von Christen in arabischen Ländern protestiert hat, und von seiner Frau, "eine große Blonde, sieht gar nicht übel aus". Vom Ausland aus gesehen, eine korrekte Bilanz.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

© SZ vom 10./11.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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