Mein Deutschland:Wenn der Tratsch die Tabus bricht

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Intime Details für mehr Aufmerksamkeit.

Pascale Hugues

Vergangene Woche war ich bei einem bekannten deutschen Schuhhersteller, um eine Reportage zu machen. Solider Mittelstand, viele Jahre lang schon Familienbetrieb. Um ein wenig Pfeffer über das Porträt zu streuen, wollte ich noch mehr über die jetzige Führungsgeneration wissen. Ein paar Anekdoten. . . Familienfotos. . . Aber ich prallte gegen eine Mauer aus Beton. Der Sprecher des Unternehmens machte den Mund nicht auf. "Das Produkt zählt, nicht die Familie", wurde ich beschieden.

Frankreichs First Lady Carla Bruni-Sarkozy wischt die Braue ihres Ehemanns, Nicolas Sarkozy, ab. Muss wirklich jeder kleinste Winkel einer Person dargestellt werden? (Foto: REUTERS)

In einer Zeit, in der die Sofas der TV-Talkshows gestürmt werden von Exhibitionisten, die gierig sind danach, auch noch den kleinsten Winkel ihres Privatlebens, ihres Körpers und ihrer Psyche darzustellen, hat diese unerwartete Scham etwas Wohltuendes. Welche Erleichterung, nichts zu wissen! Hat man in diesen Tagen doch bereits von den neuesten sexuellen Eskapaden von DSK erfahren müssen. Oder von der Liebe zwischen dem alten Oskar und der strengen Sahra - was für eine Paarung; eine Schlafzimmertür, von der mir lieber gewesen wäre, sie wäre nie geöffnet worden. Auch bleibt einem die Luft weg angesichts der öffentlichen Darstellung von Sexualpraktiken, Paarkrisen, Familienleben und Krankheiten (die neueste Mode). Man erspart uns nichts: weder Hunde noch Katzen, auch nicht das Foto der alten Mutter mit Schürze und Dauerwelle oder alle Liftings (Carla Bruni) und Haargels (Karl-Theodor von Guttenberg).

Mit welch lächerlichen Aufträgen hat mich meine Pariser Redaktion nicht schon belastet, um einen politischen Text etwas "aufzupeppen": Welche Lieblingsfarbe hat Steinmeier? Gewicht und Größe politischer Führer (was sich besonders bei Joschka Fischer und Gerhard Schröder als ernstes Problem herausstellte)? Ihr Sternzeichen? Ihr Lieblingsessen? Die Antwort auf diese Frage ist besonders in Deutschland nicht dazu angetan, einem das Wasser im Munde zusammenfließen zu lassen. Zwischen Currywurst (Schröder), Spaghetti (Fischer), Kartoffelsuppe (Merkel) und Saumagen (Kohl) werde ich von einer starken Nostalgie ergriffen, wenn ich an die raffinierten Gelüste eines Mitterrand denke, der sich heimlich ans andere Ende von Paris begab, um Ammern zu essen, kleine Vögel mit feinem Fleisch - ihre Jagd ist strikt verboten. Das Schlimmste aber ist, dass man sich in einen selbsternannten Psychologen verwandeln muss, um beispielsweise die Midlifecrisis eines Horst Seehofer oder den Napoleon-Komplex von Sarkozy zu analysieren.

Im französischen Pressejargon nennt man diese schamlose Darstellung "faire people", menscheln. Aber was will man damit beweisen? Dass die Politiker Menschen sind wie du und ich und daher würdig genug, gewählt zu werden? Oder illustriert so viel Voyeurismus nicht eher die Bedürftigkeit der politischen Debatte? Wählt man wirklich wegen der Haarfarbe, der ehelichen Treue, wegen des Faltenwurfs eines Kostüms oder des proletarischen Hangs zur Currywurst?

Sie sind ziemlich puritanisch, werden Sie mir antworten. Ja, es ist wahr, dass intime Details mehr Aufmerksamkeit erregen als die trockene Auflistung politischer Programme. Man liest all diese Indiskretionen mit ein wenig Scham, aber man ist trotz allem entzückt, wenn der Tratsch die Tabus bricht. Und, um ehrlich zu sein, ich bin nicht sicher, was meine französischen Leser mehr fesselt: die Wirksamkeit eines Fußbetts oder die verbotenen Amouren des Firmengründers.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

© SZ vom 26./27.11.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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