Mein Deutschland:Vor nunmehr 50 Jahren

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Die ersten türkischen Gastarbeiter kamen nach Deutschland - in der Chronik von 1961 wurde nichts vermerkt.

Celal Özcan

Welche Ereignisse eines Jahres sind so prägend, dass sie in den Geschichtschroniken einen Platz finden? 1961 legte John F. Kennedy als 35. Präsident der USA seinen Amtseid ab, und es begann der Bau der Mauer, welche die deutsche Teilung zementierte. Sowjetische und US-amerikanische Panzer fuhren am Checkpoint Charlie auf. Jurij Gagarin war an Bord des Raumschiffs Wostok als erster Mensch im All. Dass im selben Jahr - vor nunmehr 50 Jahren - auch die ersten türkischen Gastarbeiter in Deutschland eintrafen, ist nicht als wichtiges Ereignis in der Chronik des Jahres 1961 registriert.

Empfang des einmillionsten Gastarbeiters in Deutschland. 1964 wurde Armado Rodrigues, aus dem kleinen Dorf Vale de Madeiros in Portugal, neben dem Moped, das er bei seiner Ankunft im Köln-Deutzer Bahnhof geschenkt bekam, empfangen. Nach mehr als zwei Tagen Fahrt wurde er bei seiner Ankunft mit Pauken und Trompeten, deutschen Märschen und "Auf in den Kampf Torero" begrüßt. (Foto: DPA)

Kurz nach Beginn des Mauerbaus unterschrieb Deutschland in Bad Godesberg ein Abkommen zur Anwerbung von Arbeitskräften aus der Türkei, nicht zuletzt deshalb, weil die Mauer den Zustrom von Arbeitskräften aus dem Osten stoppte. 28 Jahre später hämmerten die Türken zusammen mit den Deutschen als Mauerspechte an eben jener Mauer herum, der die heute hier lebenden 2,5 Millionen Türkischstämmigen ihr Glück verdanken.

Aus diesem Anlass hat Hürriyet, die türkische Tageszeitung, für die ich arbeite, jene ersten türkischen Gastarbeiter in Deutschland zu Wort kommen lassen. Täglich ist eine ganze Seite für sie reserviert: ihre Erinnerungen, ihre nostalgischen Fotos. Sie schreiben und erzählen, wie sie mit Händen und Füßen die Sprachbarrieren zu überwinden versuchten. Über das, was damals bitter ernst war, können sie heute nur noch lachen.

Einige schrieben später an Bundeskanzler Willy Brandt und auch an Helmut Kohl Briefe, um auf ihre Probleme aufmerksam zu machen: an den "lieben und sehr geehrten Willy" (sevgili ve kiymetli Willy), an "meinen lieben großen Bruder Helmut" (cok sevimli Helmut abeyim), an "meinen sehr verehrten Bruder Helmut Kohl" (saygideger abeycigim Helmut Kohl). Das Kanzleramt schickte die Briefe an das türkische Programm des WDR mit dem Vermerk, man solle ihnen doch bitte eine Antwort geben.

"Sie blieben durchaus Fremde", schreibt Heimito von Doderer in seinem Roman "Die Strudlhofstiege" über die Rumänen und Bulgaren in Wien um 1910, "denen aus der Heimat andauernd ungeheure Pakete mit ihren nationalen Leckerbissen zugingen". Die Türken in Deutschland haben heute den Luxus, ihre Leckerbissen in Supermärkten vor Ort zu finden. Und wie das Fremde doch mit der Zeit einheimisch wurde, beschreibt Ahmet Ayten: "Was hat uns Deutschland nicht alles beigebracht. Unsere Sitten haben sich von Grund auf verändert, im Dampfbad hatten wir uns geschämt, nur einen Lendenschurz zu tragen, hier gewöhnten wir uns daran, mit Frauen in die Sauna zu gehen. Wir versteckten unsere Zigaretten, wenn Ältere kamen, jetzt paffen wir ungeniert vor allen Leuten, trinken Bier und Schnaps und sagen Prost dabei. Beim Fasching machen wir allen möglichen Blödsinn, wir schlingen Bratwürste in uns hinein. Wir sind Deutschländer geworden, haben uns angepasst und unser Türkisch vergessen."

Dem ist hinzufügen, dass heute die Deutschen ein bisschen dunkler, die Türken ein bisschen heller geworden sind, und die Integration ein Prozess ist, der nie abgeschlossen sein wird.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Celal Özcan arbeitet für die türkische Zeitung Hürriyet.

© SZ vom 23./24.07.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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