Mein Deutschland:Unsere Sch'tis

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Polen möchte endlich als "normal" angesehen werden.

Agnieszka Kowaluk

In dem französischen Film "Willkommen bei den Sch'tis" erfindet ein Postbeamter für seine Frau Schreckensgeschichten über das Leben in der Fremde; denn für sie ist es unvorstellbar, dass es ihrem Mann woanders gefallen könnte. Wir hiesigen Ausländer sträuben uns, vor unseren Daheimgebliebenen über unsere Sch'tis zu lästern. Denn wir würden es nur schwer ertragen, wenn unsere Landsleute über "unsere Deutschen" mitmeckerten, ohne sie zu kennen.

In den Ferien besuchen uns oft Freunde aus Polen in München. Die meisten machen sich gleich auf zum Besuch der Pinakotheken, rüsten sich zu Alpentouren, veranstalten eine Schnitzeljagd um die Häuser berühmter Schriftsteller und erzählen uns danach Wunderdinge über unsere Nachbarschaft. Die anderen flankieren ihre schwer zu verbergende Bewunderung für die bayerische Hauptstadt mit vorwurfsvollen Fragen, Tenor: "Wie kannst du hier leben? Weißt du nicht mehr, wer die Deutschen sind und was sie uns angetan haben?" Doch, weiß ich. Aber ich habe nicht das Gefühl, hier gegen das Vergessen besonders ankämpfen zu müssen. Und wer die Deutschen heute sind - kann man das überhaupt bei einem Frühstück erklären?

Das Leben in der Fremde und auch mein Beruf erfordern zwei Dinge: Erstens sich rund um die Uhr der Unterschiede zwischen unseren Nationen bewusst zu sein und sie sensibel und im richtigen Moment auszusprechen. Und zweitens: Sie komplett zu vergessen. In diesem Spagat lebt es sich spannend. Die ewigen Polenwitze, zur Zeit auch die über Griechen, treffen uns nicht deswegen so sehr, weil man uns hier vielleicht nicht mag, sondern weil sie unser aufwendig ausbalanciertes Gleichgewicht ins Wanken bringen.

Polen, das sein Selbstbewusstsein daraus zu schöpfen lernt, dass es wirtschaftlich zu Europas Klassenbesten aufschließt, versucht von seinem lange gepflegten Image als Märtyrer unter den Nationen wegzukommen und wünscht sich nichts sehnlicher, als dass es als "normal" angesehen wird. Das wünsche ich mir auch für Deutschland. Meine Landsleute sollen sehen, in was für einem normalen Land ich lebe. Ich freue mich regelrecht, wenn eine Münchner Rolltreppe mal versagt. Denn ich musste schon bei einem Spaziergang über die genervte Frage einer Freundin nachgrübeln: "Wieso muss hier auch immer alles funktionieren?"

Agnieszka Kowaluk ist Journalistin und Literaturübersetzerin. Sie berichtet unter anderem für die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza.

© SZ vom 04./05.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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