Mein Deutschland:Über Toleranz, und so

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Ein homosexuelles männliches Paar hält die Hände zusammen. (Foto: dpa)

In Polen und Deutschland wird intensiv über das homosexuelle Lebensmodell diskutiert.

Eine Kolumne von Agnieszka Kowaluk

In Polen passiert alles später als in Deutschland. Wir sind später in die EU gekommen und haben den Kapitalismus später aufgebaut. Unsere Feminismusdebatte fing zwanzig Jahre nach der deutschen an, und unseren Müll trennen wir auch erst seit Kurzem. Die Deutschen demonstrieren seit Langem gegen die Atomkraftwerke, in Polen müssen wir erst noch welche bauen. In früheren Zeiten war es anders: Polinnen hatten 1918 schon kurz vor ihren deutschen Geschlechtsgenossinnen das Wahlrecht erhalten, und Homosexualität war bei uns nie strafbar. Doch plötzlich findet in unseren Ländern etwas nicht zeitversetzt statt. In beiden spitzen sich gerade die Debatten über das "homosexuelle Lebensmodell" zu. In Warschau setzten Rechtsextreme am Nationalfeiertag ein Kunstwerk in Brand, einen Regenbogen aus künstlichen bunten Blumen. Der Streit um den Wiederaufbau dieses sichtbaren Zeichens der Toleranz begleitet nun den verbissenen Streit um "Homolobby" und "Gender-Ideologie".

Wer kürzlich in Deutschland fernsah, hätte denken können, hier fände die deutschsprachige Version der polnischen Gesprächsrunden statt, in denen sich viel um "Indoktrination", "Frühsexualisierung", "pädagogische, moralische und ideologische Umerziehung" oder die "Ideologie des Regenbogens" dreht. In Baden-Württemberg gingen Menschen auf die Straße, weil der dortige Lehrplan das Thema "Akzeptanz der sexuellen Vielfalt" berücksichtigt sehen möchte. Junge Frauen skandierten: "Schützt eure Kinder", und Talkshow-Teilnehmer sind besorgt, da "sexuelle Vielfalt Übergewicht bekommt".

Über Toleranz kann man in einer Passage von Wolfgang Herrndorfs Teenager-Roman "Tschick" lesen. Einer der Protagonisten erklärt, Mädchen würden ihn nicht interessieren. "Das hätte er noch niemandem gesagt, und jetzt hätte er es mir gesagt, und ich müsste mir keine Gedanken machen. Von mir wolle er ja nix, er wüsste ja, dass ich Mädchen und so weiter, aber er wäre nun mal nicht so und er könne auch nichts dafür. (. . .) Ich legte meine Hand in seinen Nacken, und dann saßen wir da. (. . .) Ich dachte einen Moment darüber nach, auch schwul zu werden. Das wäre jetzt wirklich die Lösung aller Probleme, aber ich schaffte es nicht."

Agnieszka Kowaluk ist Literaturübersetzerin. Sie lebt in München.

© SZ vom 15./16.02.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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