Mein Deutschland:Oh nein, es zieht!

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Die nackten Füße einer Urlauberin ragen aus einem Strandkorb. (Foto: dapd)

Den meisten Deutschen stört oft schon ein kleiner Lufthauch.

Eine Kolumne von Kate Connolly

Ich erinnere mich noch an meine Fassungslosigkeit, als ich 2011 die Überschrift in der New York Times las: "The Draft Ends in Germany". Natürlich bezog sich das auf die Abschaffung der Wehrpflicht, - draft, im amerikanischen Englisch - doch für einen Augenblick missverstand ich das Wort draft als "Zug", wie in "es zieht". Und dachte, es habe - von mir unbemerkt - eine Revolution in der deutschen Psyche gegeben. Vergangene Woche wurde ich an diese Schlagzeile erinnert, als ich, um der Hitzewelle in Berlin zu entkommen, mit meiner Familie einen Zug an die Ostsee bestieg.

Im Regionalexpress dachte ich als Britin, die von Kindheit an an zugige, also schlecht isolierte Häuser gewöhnt ist, noch, was für eine nette Brise uns doch hier erfrischt. Da sah ich schon ein paar Mitreisende einander zunicken. Und ohne dass sie die Worte "es zieht" auch nur zu äußern brauchten, stand einer auf und schloss das Fenster - rums. Schweiß rann mir den Rücken herunter, doch ich fühlte mich zu britisch und zu höflich, um irgendetwas zu sagen. Stattdessen sinnierte ich darüber, warum ein kleiner Lufthauch die meisten Deutschen, die ich kenne, so sehr stört.

Zum ersten Mal wurde ich mit dieser Obsession in der Alhambra in Granada konfrontiert. Eine Gruppe deutscher Touristen beschwerte sich über die leichte Brise, die durch die Ruinen aus dem zwölften Jahrhundert wehte. Später brachte mir mein Vermieter in Berlin den Widerspruch zwischen einem "Zug" und der Kunst des "Lüftens" bei, als er mich beschuldigte, ich hätte den Schimmelbefall an der Decke meines Badezimmers selbst verursacht, weil ich nicht gelüftet hätte. Bis ein Experte feststellte, dass es an der Isolierung gelegen habe. Dennoch gilt in Deutschland: "Lüften" gut, "Zug" schlecht. Auf meiner jüngsten Bahnfahrt wurde bei jedem Halt das Fenster geöffnet und fast alle im Waggon sammelten sich dort, um nach frischer Luft zu schnappen. "Endlich haben sie es kapiert!" dachte ich mir, nur um beim Anfahren des Zuges verzweifelt festzustellen, dass das Fenster wieder kategorisch geschlossen wurde. Jetzt sitze ich in einem Strandkorb, umgeben von erfrischendem Wind und von Urlaubern jeden Alters. Genauso wie die frische Ostseeluft genieße ich die Ironie der Tatsache, dass es hier ohne Ende zieht.

Kate Connolly berichtet für den Guardian und den Observer aus Berlin.

© SZ vom 14./15.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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