Mein Deutschland:Nur die spontane Aktion ist von Bedeutung

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Den Schuh zeigen - damit wird in der arabischen Welt Ärger und Verachtung zum Ausdruck gebracht.

Aktham Suliman

Was mag unser Bundespräsident gedacht haben, als er vergangenes Wochenende aus seinem Fenster im Schloss Bellevue blickte und Dutzende Demonstranten mit erhobenen Schuhen sah? Wahrscheinlich dachte er an eine Werbeaktion für eine Schuhmarke. In Zeiten durchkommerzialisierter Pseudowirklichkeit, wo alles - auch ein Blutfleck auf einer Jeans oder ein sich gut erhaltener Rucksack auf den Schultern eines Skeletts in der Wüste - als gute Werbung etwa für Klamotten oder Rucksäcke gelten kann, wäre ein solcher Gedanke nicht ganz aus der Luft gegriffen.

Ein Teilnehmer der Demonstration mit dem Motto "Wulff den Schuh zeigen" hält am 7. Januar 2012 vor Schloss Bellevue in Berlin einen Schuh in die Höhe. (Foto: dapd)

Der Konservative Christian Wulff könnte in der Schuhveranstaltung aber auch die Geburtsstunde eines neuen Gegners gesehen haben. Mr. President fühlt sich seit einiger Zeit sowieso einsam und von Freund und Feind missverstanden. Die Koalition bastele angeblich an dem Mietvertrag für den neuen Mieter im Hause Bellevue, ist zu vernehmen, und die Opposition habe keine sozialen Bedenken, da der Altmieter ein günstig finanziertes Eigenheim hat, von drohender Obdachlosigkeit also keine Rede sein kann. In einer durchsymbolisierten politischen Praxis könnte ein Präsident bei dem Anblick solcher Demonstranten denken: "Die roten Socken waren gestern, heute sind es die bunten Schuhe!"

An eines wird Wulff auf Anhieb nicht gedacht haben: an das Motto der Demonstranten. "Wulff den Schuh zeigen - Shoe for you, Mr. President!". Medien berichteten, mit dieser Geste würden Menschen in der arabischen Welt verhöhnt, auch Ärger und Verachtung würden so zum Ausdruck gebracht. Ein von Revolutionären geliehenes Kampfinstrument also. Das Bild erinnert tatsächlich an die Szene auf dem Tahrir-Platz in Kairo am 10. Februar 2011. Hunderttausende Demonstranten verfolgten dort eine Rede des damaligen Präsidenten Hosni Mubarak. Als klar wurde, er werde nicht abtreten, verwandelte sich der Platz binnen Sekunden in ein Meer von hochgehaltenen Schuhen.

Einiges ist Medien und Veranstaltern bei der Analogie Mubarak-Wulff aber entgangen. Schuhe hochhalten oder werfen ist in der arabischen Welt nur von Bedeutung, wenn es spontan, nicht geplant geschieht. Es handelt sich um eine Reaktion, einen Kurzschluss. Die Magie auf dem Tahrir-Platz ergab sich aus der spontanen Reaktion Hunderttausender auf Mubaraks Rede. Das Hochhalten der Schuhe drückt außerdem aus, dass eine rote Linie überschritten ist, dass nun etwas folgt. Die Menschen auf dem Tahrir-Platz gingen an jenem Abend nicht nach Hause, sondern zum Präsidentenpalast und zwangen Mubarak 24 Stunden später zum Rücktritt. Noch wichtiger ist, dass es im arabischen Kontext um den eigenen und getragenen Schuh geht. Man kann nicht die eigene Wut mit einem fremden Schuh zum Ausdruck bringen und auch nicht einen eigenen alten Schuh aus dem Schrank holen und hochhalten, wie es die Berliner Demonstranten taten. Der Araber beugt sich in einer Wutsituation spontan nach unten, zieht seinen Schuh aus, erhebt ihn vor dem Gegner oder wirft ihn ihm ins Gesicht. Alles andere wäre eine Fälschung.

Die Analogie Mubarak-Wulff greift im Übrigen auch deswegen nicht - durchglobalisierte Welt hin oder her -, weil der erste mitsamt seiner Familie Milliarden schluckte, während sich der andere gerade mal einen zinslosen Kredit gönnte. Mubarak und Wulff, das sind doch zwei verschiedene Paar Schuhe, oder?

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondente über Deutschland. Aktham Suliman leitet das deutsche Büro des arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera Network.

© SZ vom 14./15.01.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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