Mein Deutschland:Mission impossible

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Das deutsche Schulsystem kann man nicht kurz und verständlich erklären.

Pascale Hugues

Es ist der große Albtraum einer Korrespondentin in Deutschland. Diese unschuldige Anfrage der Redaktionszentrale in Paris an einem schönen Sommermorgen, als ob es sich um eine Kleinigkeit handelte: Kannst du uns für morgen einen Mini-Kasten über das deutsche Schulsystem schreiben? Nur ein paar Zeilen. Eine schnelle und klare Analyse, damit die Leser es mit dem französischen System vergleichen können.

In einer ersten Klasse der Evangelischen Grundschule im brandenburgischen Rauen (Oder-Spree) hilft der Lehrer einer Schülerin während des Unterrichts. (Foto: dpa)

Während ich am anderen Ende der Leitung sitze, läuft es mir kalt den Rücken herunter. Die Berlin-Korrespondentin zu bitten, das deutsche Schulwesen zu beschreiben, das ist, wie wenn man den Londoner Korrespondenten fragen würde, ein für allemal die Cricket-Regeln zu erklären. Mission impossible. Ich packe den Stier bei den Hörnern und folge einem sehr französischen Reflex: Ich rufe das Bundesbildungsministerium in Berlin an, um meine sehr einfachen Fragen zu stellen, eine nach der anderen. Wie naiv ich doch bin! Man lacht mich fast aus und empfiehlt mir, die 16 Pressesprecher der 16 Landesministerien anzurufen. Darüber könnte man fast verrückt werden. Der Thüringer malt ein ganz anderes Bild als der Bayer, der Berliner ist nicht auf derselben Wellenlänge wie der Baden-Württemberger, die Hamburger zerreißen sich derzeit sowieso. Jeder beginnt einen langen Monolog, um mir das System seines Landes zu erklären und nach ein paar Sekunden verstehe ich rein gar nichts mehr. Ich spüre zumindest, dass dieses Terrain vermint ist. Schule spaltet. Will man die vier- oder sechsjährige Grundschule? Eine Frage, die mir harmlos erscheint und doch eine wilde ideologische Debatte auslöst.

Wie soll man dem französischen Leser "kurz und verständlich" erklären, dass in Berlin nach offizieller Lesart die Kinder bis zur 6. Klasse gemeinsam unterrichtet werden? Dass es aber Ausnahmen gibt, weshalb die Eltern der Hauptstadt sich jedes Frühjahr einen gnadenlosen Kampf um die raren Plätze an den Gymnasien liefern, die Kinder bereits nach der 4. Klasse nehmen? Wie soll man aufschreiben, dass die Hamburger soeben gegen dieses Berliner System per Volksentscheid abgestimmt haben? Berlin und Hamburg gehören schließlich zu ein und demselben Land. Und dass in Bayern die Aufteilung für alle nach der 4. Klasse geschieht, basta! Und warum machen manche Abitur nach zwölf, andere nach 13 Jahren? Wie soll man einem Franzosen erklären, dass es in Deutschland unmöglich ist, von einem Bundesland ins andere umzuziehen, wenn man schulpflichtige Kinder hat? Ich verliere mich im Labyrinth der regionalen Besonderheiten und der Regelausnahmen. Ich kapituliere, unfähig, diese Informationen in einige Zeilen zu pressen. Dafür bräuchte ich den Platz eines Altgriechisch-Lexikons.

Plötzlich erfasst mich eine Nostalgie für den guten alten Zentralismus à la française. Vom Elsass bis in die Provence, vom Pas de Calais bis zur Insel Réunion werden alle kleinen Franzosen gleich behandelt: Gemeinsame Grundschule bis zur 6. Klasse, dieselben Schulzeiten, dieselben Fächer, dieselben Lehrpläne, das Abitur nach zwölf Jahren für alle. Welche Erleichterung. Ich beneide die deutschen Korrespondenten in Paris. Meine autoritäre Republik verschafft ihnen ruhige Sommerabende.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

© SZ vom 24./25.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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