Mein Deutschland:Katholische Hochburg und evangelische Gemeinde

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Für die Deutschen ein bayerischer Papst und für die Italiener ein präsenter Benedikt XVI.

Alessandro Melazzini

Lassen wir die Kirche im Dorf, sagt ein altes deutsches Sprichwort. Ein schwuler Außenminister und eine Frau als Kanzlerin, die dem rechtskonservativen Spektrum angehört, obwohl sie geschieden und kinderlos ist, lassen die Italiener freilich glauben, dass Deutschland ein ziemlich säkularisiertes Land sei, wo eher Sachlichkeit und Aufklärung als die katholische Lehre herrschen. Und doch gibt es hierzulande einige mystische Orte, wo die Kirche nicht nur im Dorf steht, sondern gleich das ganze Dorf ist. Ich meine zum Beispiel den bayerischen Wallfahrtsort Altötting.

Wallfahrer pilgern am 6. Mai 2011 auf einem Weg nahe Pocking  nach Altötting. Mehr als tausend meist junge Christen aus dem Bistum Passau wollen zur Marienweihe nach Altötting wandern. (Foto: dpa)

Altötting wird das Herz Bayerns genannt, und zwar nicht nur symbolisch, sondern auch tatsächlich, denn in der mittelalterlichen Gnadenkapelle ruhen in ewiger Anbetung am Gnadenbild der Mutter Gottes die Herzen Ludwigs I. und Ludwigs II.. Viele Besucher aus Italien, die zum Beispiel mit imposanten Heiligtümern wie Loreto, dem zweitwichtigsten Wallfahrtsort in Italien, vertraut sind, wundern sich, wenn sie in Altötting ankommen und im heiligen Bezirk eine winzige Kapelle entdecken. Aber die besondere Eigenschaft Altöttings liegt darin, dass die Gnadenkapelle ihre Stärke und Ausstrahlung gerade aus ihrer Winzigkeit zu schöpfen scheint.

Aus der Sicht eines Italieners ist es ebenso verwunderlich, dass es sogar in dieser katholischen Hochburg auch eine evangelische Gemeinde gibt. Hier sieht man sofort den Unterschied zwischen Deutschland und Italien. In Deutschland hat man immer mit mindestens zwei "konkurrierenden" Kirchen zu rechnen, der römisch-apostolischen und der evangelischen.

Was für einen Durchschnitts-Italiener praktisch feststeht (nämlich, dass der Glaube mit der Lehre des Vatikan gleichzusetzen sei), ist in Deutschland keine Selbstverständlichkeit. Wer glaubt, hat hierzulande mehrere Gründe, seinen Glauben aktiver zu hinterfragen, statt Vorgegebenes ohne weiteres passiv zu akzeptieren. Das heißt auch, dass derjenige, der die Entscheidung für eine bestimmte Kirche trifft, sich seiner Wahl ziemlich bewusst ist, zumal er auch Kirchensteuer dafür zahlen muss. Die Ferne zum Vatikan bedeutet auch, dass nicht wenige Deutsche den Heiligen Stuhl in Rom "nur" als ein geistliches Zentrum betrachten. Dessen politischen Einfluss auf die Politik Italiens können viele Deutsche daher gar nicht richtig einschätzen.

Denn Deutschland mag einen bayerischen Papst haben, doch die Worte Benedikts XVI. sind in Italien viel präsenter als in seiner Heimat, auch dank ihrer ständigen Übermittlung im italienischen Fernsehen. Solche Worte haben übrigens in Italien immer auch einen politischen Beigeschmack, da die italienische Politik allzu gerne den Vatikan für ihre Zwecke zu benutzen sucht; ohne zu merken, dass die katholische Kirche viel souveräner als sie diese Taktik im eigenen Interesse zu nutzen weiß.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Alessandro Melazzini arbeitet als Kulturkorrespondent für die italienische Tageszeitung II Sole 24 Ore.

© SZ vom 07./08.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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