Mein Deutschland:Jahrelang als Wahlkampfthema missbraucht

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Aus dem Gastarbeiter und Ausländer wurde der Mitbürger mit Migrationshintergrund.

Celal Özcan

Sarrazins medienwirksame Auftritte erinnern mich an eine orientalische Geschichte: In einem Dorf war ein Brunnen, wer daraus trank, verlor den Verstand und redete wirr. Ein Junge wollte verhindern, dass mehr und mehr Leute das vergiftete Wasser tranken. Ohne Erfolg. Am Ende verließ er mutlos sein Dorf.

Demonstranten protestieren am 9. September 2010 vor dem Nikolaisaal in Potsdam.  Thilo Sarrazin startete dort eine bundesweite Lesereise mit seinem Buch ´Deutschland schafft sich ab". Wegen seiner Thesen zu Einwanderern steht der ehemalige Berliner Finanzsenator seit Wochen in der Kritik. (Foto: dpa)

Die politische Elite von rechts bis links versucht seit zwei Wochen zu verhindern, dass die Menschen aus Sarrazins Brunnen trinken. Aber war Sarrazin derjenige, der mit allem anfing? Politiker haben die Ausländer jahrelang als Wahlkampfthema missbraucht und damit Stimmung gemacht, oft mit Erfolg. Bei einer Veranstaltung in Ingolstadt sagte ein ehemaliger Bundeskanzler: "Sie nehmen einen Gast in Ihrem Haus auf. Ein paar Tage später fängt er an, mit Ihren Vorhängen seinen Schuh zu putzen. Dann versucht er, Ihre Tochter anzumachen. Was tun Sie mit so einem Gast? Sie schmeißen ihn raus." Tosender Applaus. Die Drohung mit dem Rausschmiss missliebiger Migranten gehörte jahrelang zum politischen Sprachgebrauch und verunsicherte viele, die in diesem Land eine Heimat gefunden hatten. Die Kampagnen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft (sie gefährde die innere Sicherheit mehr als seinerzeit die RAF), dazu Unterschriftenaktionen gegen Ausländer - all das liegt noch nicht lange zurück. Doch selbst in der Politik begann allmählich die Einsicht zu wachsen, dass versäumte Chancen nachzuholen sind. Der erste Schritt war eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Aus dem Gastarbeiter und Ausländer wurde der Mitbürger mit Migrationshintergrund. Unbestreitbare Defizite bei der Integration sollten, so das Versprechen, mit mehr Bildungsangeboten beseitigt werden. Doch all dies geschah nur halbherzig. Die Umetikettierung des Gastarbeiters zum Migranten allein half nicht, um dessen Benachteiligung auszugleichen. Und das Geld für Deutschkurse war knapp.

Dann betrat Sarrazin die Bühne und streute Salz in die alten Wunden. Zurück auf Anfang? Tatsächlich scheint die Stimmung zu kippen. Laut jüngsten Umfragen würden 18 Prozent der Wähler einem Kandidaten Sarrazin ihre Stimme geben. Die Parteien werden mit E-Mails ihrer Mitglieder bombardiert, die den Schulterschluss der Spitzenpolitiker gegen Sarrazin kritisieren. Türkische Migranten fühlen sich durch Sarrazins abfällige Äußerungen gekränkt, in der Türkei dagegen lacht man nur über die absurde These, Muslime seien minder intelligent, ja bildungsunfähig. Schließlich kennt jedes Land und jede Bevölkerung Gebildete und Ungebildete, Intelligentere und weniger Intelligente. Und Sarrazins biologistisches Verständnis von Intelligenz ist vorgestrig: Denn mit den Herausforderungen einer globalisierten, hochtechnisierten Welt und der Nutzung entsprechender Bildungsangebote steigt auch der IQ der Menschen, die in diesen Gesellschaften leben - in der Türkei wie in Deutschland. Und gerade Kinder aus der Unterschicht sind oft fleißiger, ehrgeiziger und diziplinierter, um es einmal besser zu haben als ihre Eltern. Aber: Sie brauchen Motivation und Förderung.

Der Junge aus der Geschichte kehrte übrigens nach einiger Zeit in sein Dorf zurück, um zu sehen, was dort geschehen war. Alle redeten inzwischen wirr. Verzweifelt lief er zum Brunnen und trank selber daraus.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Celal Özcan arbeitet für die türkische Zeitung Hürriyet.

© SZ vom 11./12.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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