Mein Deutschland:Information oder Desinformation!

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Mit zunehmendem Medienkonsum etabliert sich in den Köpfen eine Art Medienrealität.

Aktham Suliman

Die Nachrichtenwoche war ziemlich klar: Bundespräsident Joachim Gauck hat seine Arbeit aufgenommen. In Frankreich hat offenbar ein Terroranschlag stattgefunden; irgendwie ist der Täter am Ende gestorben; irgendwie soll das Ganze mit al-Qaida zusammenhängen. In New York hat der UN-Sicherheitsrat "endlich zu einer gemeinsamen Sprache in Sachen Syrien gefunden", wie eine Reporterin die Erklärung zu Syrien kommentierte. Und in Ägypten verstarb das Oberhaupt der koptischen Kirche. Die Nachrichtenwoche war klar, die Wochen davor, die Monate, Jahre, Jahrzehnte auch. Überhaupt: Alles ist für alle klar - dank uns Journalisten, oder?

Ein Denkmal zu Ehren des Wissenschaftlers Albert Einstein in Ulm. Mit seinen zerstrubbelten Haaren und der ausgestreckten Zunge wäre er in diesen Zeiten nur bedingt medientauglich. (Foto: Michael Latz)

Nach 20 Jahren im Beruf wird man vorsichtiger mit der Selbstbeweihräucherung. Es wird einem klar, wie viel Zeit und Kraft in den vergangenen Jahren auf die Beantwortung von Pseudofragen verwendet wurden. Für kulturübergreifende, systemrelevante Aspekte des Journalismus bietet der Alltag kaum Raum. Lediglich aus der Ecke der Medienforschung entnehmen Interessierte gelegentlich, dass sich mit zunehmendem Medienkonsum eine Art Medienrealität in den Köpfen etabliert, dass die Medien bei der Bildung der öffentlichen Meinung und von vermeintlichen Mehr- oder Minderheiten eine entscheidende Rolle spielen.

Dabei erleben Journalisten oft jeden Tag aufs Neue das Scheitern des Systems Journalismus. Noch schlimmer: Wie es zum Scheitern anderer Systeme beiträgt. Wo liegt das Mekka des modernen Journalisten? Im Internet und nennt sich "Google". "Alles Google zum Geburtstag" den alten Hasen der vierten Gewalt! Alles ist googlebar. Alles und jeder wird gegoogelt. Vor lauter Googeln und Google-Informationen kommen viele Journalisten sogar auf die Idee, Bücher zu schreiben. Dass unsereiner kaum noch welche liest, ist irrelevant. Und weil Systeme sich anstecken, gibt es im System Politik kaum noch Politiker, die nicht in 20 Sekunden langen und schneidbaren Aussagepaketen sprechen, oft ohne Informationen. Dies merkt man als ausländischer Journalist bei der Übersetzung, die meistens kürzer als der Originalton ausfällt.

Politiker sein ist heutzutage Formsache. Nuscheln, Stottern oder mal Jeans Tragen bei einer Bundestags- oder Landtagsdebatte ist tabu. Gott schütze akustische Ausnahmen wie das Fossil Rainer Brüderle oder optische wie die Piratenpartei und Hans-Christian Ströbele! Ähnliches gilt für das System Wissenschaft. Albert Einstein hatte "relativ" viel Glück. Mit dem zerstrubbelten Haar und der ausgestreckten Zunge wäre er heute höchstens talkshowtauglich. Der moderne Wissenschaftler ist ein eleganter Marketingkünstler. Am Ende eines Fernsehinterviews fragt er ganz selbstverständlich: "Soll ich jetzt durch die Tür kommen oder lieber ein Buch aufschlagen für die Antextbilder?"

Nach 20 Jahren Insiderdasein drängt sich die Erkenntnis auf: Geschnittene Bilder bedeuten oft beschnittener Geist. Doch das Leben ist weder geschnitten, noch hat es einen Titel und eine gute oder schlechte Platzierung. Kurzum: Wir informieren uns nicht zu Tode. Wir desinformieren uns - allerdings auch zu Tode.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Aktham Suliman leitet das deutsche Büro des arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera Network in Berlin.

© SZ vom 24./25.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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