Mein Deutschland:In zwei Gattungen getrennt

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Die Deutschen sind die Ameisen und Südländer die Grillen.

Pascale Hugues

In der Fabel "Die Grille und die Ameise", die alle Franzosen seit Generationen in der Schule auswendig lernen müssen, teilt Jean de La Fontaine die Menschheit in zwei Gattungen: die Grillen, leichtsinnige Wesen, die den ganzen Sommer singen und das Leben genießen, ohne sich um die Zukunft zu kümmern; und die Ameisen, fleißig und vorsorgend - sie nutzen das schöne Wetter, um zu schuften und für den Winter Proviant zu sammeln. Farniente gegen Fleiß. Hedonismus gegen Realitätssinn.

Ameisen laufen bei strahlendem Sonnenschein über das Blatt eines Johannisbeerstrauchs. (Foto: dpa)

Leichtfertig - und zahlreich - sind jene, die es sich in den Zeiten der Euro-Krise nicht nehmen lassen, die europäischen Völker auf diese Schablone zu reduzieren: Die Südländer - Griechen und Spanier voran - sind demnach Grillen. Sie essen stundenlang, halten lange Siestas, gehen früh in Rente und weigern sich, ihre Steuern zu bezahlen. Und die Deutschen sind die Ameisen. Sie leben, um zu arbeiten, akzeptieren ohne Protest die Erhöhung des Rentenalters auf 67, verzichten zum Wohl ihrer Firma sogar auf Lohnerhöhungen und bezahlen brav und pünktlich ihre Steuern.

"Als der Nordwind um sie tost", dichtet Jean de La Fontaine weiter, klopft die verhungerte Grille an die Tür der Ameise, "und bittet sie, ihr doch Korn zu geben. Ein wenig nur zum Überleben. Bis der Frühling wieder da ist." - Die Griechen sind auch gekommen und haben an den Türen der europäischen Ameisen gekratzt, um Hilfe von ihnen zu erbitten - in Form mehrerer üppiger Rettungspakete. Da bekommt man leicht beleidigende Etiketten verpasst. In den Augen der Hüter der Strenge sind die Griechen und andere Club-Med-Länder Taugenichtse, Faulpelze, die sich erdreisten, von den anderen zu verlangen, dass sie auch noch für deren Laxheit bezahlen sollen. In den Augen derjenigen, die sich am Rande des Abgrunds befinden und denen ein enges Sparkorsett verpasst wurde, sind die Deutschen und deren Kanzlerin Angela Merkel nichts als autoritäre Bestimmer.

Die Gedichte der Moralisten wie La Fontaine hatten belehrende Absichten. Man sollte sparen, an die Zukunft denken und arbeiten. Deswegen knallt die Ameise - gnadenlos, wie sie ist - der Grille die Tür vor der Nase zu. Am Ende sind aber weder die Grille noch die Ameise besonders sympathische Insekten. Die eine ist ein Parasit, unfähig, Verantwortung für sich zu übernehmen. Die andere ist eine geizige Egoistin. Besieht man sich die astronomische Auflage, welche die jüngste Brandrede Thilo Sarrazins in Buchform hat, und glaubt man den Umfragen, wonach 55 Prozent der Deutschen die Preisgabe der D-Mark bedauern, so merkt man, wie einfach es doch ist, von einer Rückkehr in die Vergangenheit zu träumen; die wunderbare Lösung einer Krise, die uns alle zermürbt. Jeder für sich in seinem kleinen Land, warm am Ofen sitzend mit seiner eigenen Währung, die Tür verrammelt, die Vorhänge zugezogen - und dabei ist es völlig egal, wer an die Tür pocht, weil er sich am Rande des Abgrunds befindet. Schade um das Solidaritätsprinzip. Schade auch um all die Vorteile, die uns - die Deutschen, die sich nach der D-Mark zurücksehnen, eingeschlossen - ein vereintes Europa und eine vereinte Währung bieten. Wie traurig wäre das Leben der Ameise doch ohne den Gesang der Grille!

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

© SZ vom 23./24.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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