Mein Deutschland:In Deutschland ist auch nicht alles gut

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Angela Merkel will Nicolas Sarkozy bei der Präsidentenkampagne unterstützen.

Pascale Hugues

Seit Jahrzehnten führen französische Politiker nur dieses eine deutsche Wort im Mund. Im Gegensatz zu "Angst" und "Waldsterben" in den 80ern und zu "Wiedervereinigung" und "Mitteleuropa" in den 90ern ist "das deutsche Modell" niemals aus der Mode gekommen. Eine kabalistische Formel, ein "Schatz", so Nicolas Sarkozy - ein System, von dem niemand weiß, wie es wirklich funktioniert. Man weiß nur, dass die Deutschen nicht permanent streiken, dass die Arbeitnehmer Gehaltskürzungen oder die Rente ab 67 in schwierigen Zeiten akzeptieren - ohne zu murren! Resultat: Deutschland bleibt, trotz der Krise, an der Spitze der Industrienationen. In Kürze: Bei denen funktioniert das besser als bei uns. Diese Feststellung gebiert einen Cocktail widersprüchlicher Gefühle: Neid, Minderwertigkeitskomplex, Bewunderung.

Der französische Präsident Nicolas Sarkozy und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geben sich 06.02.12 im Elysee-Palast in Paris bei einem Treffen zum 14. deutsch-französischen Ministerrat auf einer Pressekonferenz die Hand. Die Gespräche dienen zur Abstimmung auf allen Politikgebieten und zur Vertiefung der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Schwerpunkte werden diesmal die Themen Euro, die Fiskal- und Wirtschaftspolitik sein. (Foto: dapd)

Schröder, Merkel und ihr Modell dominieren die ersten Schritte der französischen Präsidentschaftskampagne. Die Franzosen hätten sie alle so gern für sich. Selbst den Wulff würden sie mit Handkuss aufnehmen. Es ist fast wie eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates. Vor zehn Tagen wurde ein Fernsehinterview mit Nicolas Sarkozy ausgestrahlt. Stolz wie ein Pfau vor der Vertäfelung des Élysée-Palastes, das Antlitz von sechs immensen Kristalllüstern ausgeleuchtet, erwies der Präsident Gerhard Schröder und seinen Reformen die Ehre. Er verlangte, vom Klassenbesten in Europa abzuschreiben: "Ist es nicht, offen gesagt, meine Aufgabe zu beobachten, was im Ausland passiert und den Franzosen zu sagen: Schaut, das hat bei denen funktioniert! Warum sollte das nicht auch bei uns funktionieren?!"

Am nächsten Morgen ließen die Radiohörer ihrem Zorn freien Lauf: Die Franzosen würden bald eine Überdosis Modell Deutschland haben! Das sei grotesk! Plötzlich sei alles gut in Deutschland, nicht nur der Strudel, auch das Modell! Mittags schlug ich der Redaktion meiner Zeitschrift vor, doch mit Schröder Kontakt aufzunehmen. Der Chefredakteur hatte bereits seit Wochen um ein Interview mit Peter Hartz gebeten.

Am Mittwoch sagte mir ein befreundeter Fotograf, dass er bei Reportagen in deutschen Unternehmen sofort den Unterschied spüre: die Ruhe, den Ton, in dem die Leute sich unterhielten. Das deutsche Modell lasse sich in der Luft greifen. Ich war perplex.

Mittagsjournal im Radio, Abrechnung mit dem deutschen Modell. Ein Sozialistenführer verliert während der Live-Schaltung die Nerven. Fünf Millionen Minijobs zu 400 Euro pro Monat! Prekäre Gehälter! Die Kluft, die sich in Deutschland zwischen Armen und Reichen auftut! Das deutsche Modell sei kein französisches! Endlich eine abweichende Stimme, die die Ratlosigkeit meines Landes anprangert. Am selben Tag um 15 Uhr wird angekündigt, dass Angela Merkel Nicolas Sarkozy bei der Präsidentschaftskampagne unterstützen werde. 16 Uhr: Nur 29 Prozent der Franzosen halten in einer Umfrage die von Sarkozy angekündigten Maßnahmen für gut. Das deutsche Modell hat ausgespielt. Kein Gerhard Schröder bei uns!

Vergangene Nacht hörte ich auf Youtube die wundersamerweise erhaltene Aufnahme der Stimme von Otto von Bismarck. Und was rezitiert der Reichskanzler da, im Jahr 1889? Die erste Strophe der Marseillaise. In einem untadeligen Französisch. Das waren noch Zeiten!

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten jede Woche über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point. Übersetzung: Edeltraud Rattenhuber

© SZ vom 06.02.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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