Mein Deutschland:Hiddensee - mein Lieblingsplatz in Deutschland

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Eine Insel mit viel Geschichte.

Kate Connolly

Ist es wahr, dass alle Inseln klein sind und dass man sie mit dem Fahrrad umrunden kann, fragte mich diese Woche schluchzend die fünfjährige Emina aus Berlin, als wir mit dem Rad am Strand entlangfuhren, um ihre Mutter zu suchen. Ich hatte sie leise weinend in Kloster gefunden, einem Dorf auf der zauberhaften, windumtosten Insel Hiddensee. Nein, nicht alle Inseln sind klein, sagte ich, während ich ihr erklärte, dass England, woher ich komme, auch eine Insel ist - nur um einiges größer als Hiddensee mit seinen 1400 Einwohnern. Erstaunt blickte sie mich an. Die kurze Geographiestunde, die sich anschloss, half, sie von ihrem Schmerz abzulenken.

Der Leuchtturm von Hiddensee während der so genannten Blauen Stunde nach Sonnenuntergang auf dem Dornbusch bei Kloster. Zahlreiche Wanderer steigen die 102 Stufen zur Aussichtsplattform in 20 Metern Höhe hinauf. Der weiße Turm wurde 1887/ 88 errichtet und steht auf dem 72 Meter hohen Bakenberg im Kloster-Hochland. Sein Licht ist noch in einer Entfernung von 21 Seemeilen (rund 39 Kilometer) zu sehen. (Foto: Jens Büttner/dpa)

Hiddensee ist tatsächlich klein - nur 16 Kilometer lang - aber darum nicht weniger interessant. Es ist mein Lieblingsplatz in Deutschland. Mit seinen Pferdekutschen - Privatwagen sind verboten - und seinen urigen, jahrhundertealten Reetdachhäusern fühlt man sich dort auf erfrischende Art meilenweit entfernt vom Leben in der Stadt. Zu DDR-Zeiten wurde Hiddensee manchmal "versteckte Insel" genannt, und auf vielerlei Arten hat es sich das bewahrt. Keine Golfplätze, keine Nachtclubs oder Hotelketten. Für mich passt es wunderbar, dass "hidden" auf Englisch "versteckt" heißt.

Überhaupt nicht versteckt aber ist die Geschichte der Insel. So stolperte ich eines Morgens auf einem Spaziergang durch den Wald über ein heruntergekommenes eingerüstetes Gebäude. Auf einem verwitterten Schild an der Mauer las ich, Albert Einstein habe einst hier gewohnt. Der Physiker ist nur eine von vielen bekannten Personen seiner Zeit - Schriftsteller, Maler und andere Künstler - die diese Insel zu ihrem Rückzugsort machten. In Vitte zum Beispiel befindet sich das mittlerweile arg verfallene, runde Sommerhaus des ersten Stummfilmstars Asta Nielsen, das sich anschickt renoviert zu werden. Auf der anderen Seite der Felder, in Kloster, winkte der Schauspieler Otto Gebühr manchmal mit einem weißen Laken aus dem Fenster, um Nielsen und ihren Freund Joachim Ringelnatz zum Nachmittagstee einzuladen.

Sigmund Freud, Gottfried Benn, Hans Fallada, Billy Wilder und Gerhart Hauptmann besuchten ebenfalls die Insel und die Spuren ihrer Aufenthalte sind zu finden in Gedichten, Gemälden und Tagebucheintragungen, gesammelt von den eifrigen Archivaren der Insel. Der Aufstieg der Nationalsozialisten beendete diese Zeit auf Hiddensee abrupt. Viele der Genannten flohen aus Deutschland, entweder weil sie mussten, oder weil sie, wie Nielsen, gegen die Nazis protestieren wollten. Die Familie Freud, die nach England emigrierte, hatte seitdem immer Heimweh nach Hiddensee und tröstete sich mit Walberswick an der Ostküste von Suffolk, dessen weiter Horizont, Sandstrände und Dünen sie an ihr geliebtes Feriendomizil erinnerten. Ihr Haus dort nannten sie "Hidden-Haus".

Das Leben hinter dem Eisernen Vorhang schnitt die Insel dann noch mehr ab von der Welt. Die Inselbewohner erzählen, dass FKK dort boomte - eine der wenigen Möglichkeiten für die DDR-Bewohner, ihre Freiheit auszudrücken. Sie erzählen auch, dass es ihnen verboten war, auf Surfbrettern oder Luftmatratzen ins Meer zu gehen, aus Angst, sie könnten fliehen.

Eigentlich war ich nach Hiddensee gekommen auf der Suche nach ein wenig Sand, Meer und baltischen Winden. Gratis dazu bekam ich eine Menge bereichernder Geschichtsstunden.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Kate Connolly berichtet für den britischen Guardian aus Berlin.

© SZ vom 08./09.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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