Mein Deutschland:Herrlicher "Zwangsurlaub" in Istanbul

Lesezeit: 2 min

Mit Günther Grass auf einer Dachterrasse süßen, dickflüssigen Türkischen Kaffee schlürfen.

Kate Connolly

War ja eigentlich klar: Als wir das Flugzeug in Tegel bestiegen, um in die andere Kulturhauptstadt Europas zu fliegen - nach Istanbul - stieg mit uns das Who is who der deutschen Kulturszene ein, um auch genau dorthin zu fliegen.

Vulkan Eyjafjallajokull - durch das tagelage Flugverbot fielen allein im deutschen Flugraum bis zu 40000 Flüge aus. (Foto: Foto: dpa)

Direkt vor mir saß nun also der Direktor des Deutschen Historischen Museums, in der Reihe hinter mir einer der Chefs des Lyrik-Archivs. Außerdem erkannte ich noch einen bekannten Literaturkritiker mit eigener Fernsehshow, und neben mir saß ein Kulturbeauftragter.

Noch bevor wir auf dem Atatürk-Flughafen landeten, war klar, dass Istanbul so etwas wie ein Magnet sein muss - zumindest für kulturell interessierte Deutsche.

Doch dann kam der isländische Vulkanausbruch und aus dem zweitägigen Kurztrip wurde ein neuntägiger "Zwangsurlaub" - wie die Bildzeitung, die ich in einem Kiosk am Istiklal-Boulevard fand, das nannte.

Was unangenehmer klingt, als es eigentlich ist. Zwangsurlaub weckt unschöne Assoziationen wie Zwangsjacke, Zwangsernährung oder gar Zwangsregime. Die Türken begriffen das Ganze sofort philosophischer, der Satz "felekten bir gün calmak", bedeutet ungefähr so viel wie "dem Schicksal einen Tag stehlen" - und klingt doch gleich viel freundlicher.

Der Hamburger Violinist Daniel Hope, zur selben Zeit wie ich in der Stadt, um mit dem temperamentvollen Borusan Orchester zu spielen, hätte eigentlich direkt im Anschluss zu einem Konzert in Stuttgart fliegen müssen; er schaffte es tatsächlich, mit einem Privatjet zumindest nach Zagreb zu entkommen.

Klaus Maria Brandauer, der für eine Preisverleihung in Istanbul weilte, wurde von einem Chauffeur abgeholt, der ihn zu seinem nächsten Theaterengagement fahren sollte. Kein Zweifel - seine Reise über die schlaglöchrigen Straßen des Balkans muss höchst abenteuerlich gewesen sein.

Sämtliche Fluchtoptionen, die ich selbst eruierte, erwiesen sich allesamt als entweder unrealistisch oder viel zu teuer. So ergab ich mich schließlich meinem Schicksal. Gemeinsam mit zwei Kollegen erkundete ich in den folgenden Tagen Istanbuls herrliche Paläste, die Dachterrassenrestaurants, den Bosporus. Und ja, wir lernten die Stadt viel besser kennen, als wir das je in einem Zwei-Tage-Kurztrip hätten tun können.

Wunderbare, großzügige Menschen führten uns herum und zeigten uns ihre Stadt. Im sogenannten Spukhaus, dem Hauptquartier der Bosporus-Bankengemeinschaft, führte mich der faszinierende und vor allem diamantohrringtragende Ahmet Kocabiyik durch seine stetig wachsende Sammlung zeitgenössischer Kunst - mit übrigens recht vielen deutschen Werken.

Auf der Dachterrasse eines Bobo-Cafés in einem sogenannten Künstlerviertel traf ich schließlich einen 82-jährigen pfeiferauchenden Nobelpreisträger... Den Morgen hatte Günther Grass mit Bummeln über den Großen Basar verbracht und nun schlürften wir gemeinsam auf eben dieser Dachterrasse süßen, dickflüssigen Türkischen Kaffee. Als um uns herum die Tauben gurrten und die Rufe der Muezzine von den Minaretten hallten, sprach Grass von diesem unerwarteten Glück, in einer Stadt festzusitzen, in der das Leben pulsiert und in der es so herrliche Fischgerichte gibt. Ich musste ihm unweigerlich recht geben: Zwangsurlaub, jederzeit!

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Kate Connolly berichtet für den britischen Guardian aus Berlin.

© SZ vom 30.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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