Mein Deutschland:Fußball verbindet

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Die Menschen sind laut und in guter Stimmung. Viele Briten kommen sogar regelmäßig per Flugzeug oder Fähre nach Hamburg, um dem FC St. Pauli zuzujubeln.

Kate Connolly

Ich war lange Zeit kein Fußballfan. Seitdem ich in der Nähe eines Stadions wohne, beobachte ich an Samstagen die Massen, die zu den Spielen strömen, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Die Menschen sind laut und in guter Stimmung. Ihr Anblick hat mich zunächst kaum bewegt, aber irgendwann hatte ich das Gefühl, etwas zu verpassen. Das Gefühl des gewissen buzz auf den Straßen von Babelsberg. Kürzlich bin ich deshalb den Menschenmengen ins Karl Liebknecht Stadion gefolgt.

Die Fans jubeln ihrem FC St. Pauli zu und lassen große Gefühle zu. (Foto: getty)

Die meisten Fans standen. Sie tranken Bier und rauchten. Ihre Kinder hingen an den Einzäunungen wie kleine Affen an den Bäumen. Alkohol, Zigaretten, Stehplätze, dachte ich - war das nicht das Gefühl, das wir früher auf britischen Fußballplätzen erlebten, bevor diese zu teuren, mit Sitzen bestückten, überdachten, sterilen und alkoholfreien Arenen wurden? In Babelsberg kostet der Eintritt weniger als eine Kinokarte. Wer nach der Halbzeit kommt, darf sogar gratis rein.

Man kann herumlaufen, auf der Suche nach der besten Perspektive, die Spieler von ganz nah sehen, und ja, der Fußball dort ist ziemlich gut. Ich fühlte mich privilegiert, an dem Tag dabei zu sein, als der SV Babelsberg 03 von der Regional- in die dritte Liga aufstieg. Es war ein Gänsehaut-Moment. Die Spieler feierten den Sieg mit Rotkäppchen-Sekt, den sie zur Hälfte übers Spielfeld leerten. Viele hatten feuchte Augen.

Mir scheint, als sei ich nicht die einzige Britin, die sich vom deutschen Fußball begeistern lässt. Tausende meiner Landsleute kommen regelmäßig mit dem Billigflieger oder der Fähre nach Hamburg, um dem FC St. Pauli zuzujubeln. Über den Club hat ein britischer Fan auf einer Website geschrieben, seinetwegen könne man sich erneut in Fußball verlieben.

Der linke, hedonistische Club ist ein erfrischender Gegenpol zum Uefa-Ideal einer corporate identity . Und auch hier findet man einen leicht versifften Spielplatz, Bier und Zigaretten und einen Zaun, der aus Sicherheitsgründen in Großbritannien längst verboten ist. Man fühlt sich auch hier an den Fußball der 70er und 80er Jahre im Königreich erinnert. Nicht zuletzt die FC St. Pauli-Fans, die Lieder der Beatles singen, deren Karriere übrigens unweit von hier begann, tragen zur Nostalgie bei.

Die Briten, die den FC St. Pauli als "ihren" Verein adoptiert haben, sind ein Beleg für die wachsende Zahl der frustrierten Fans aus dem Königreich. Sie vermissen die großen Gefühle, seitdem die erste Liga ihre Seele verkauft hat, wodurch die mächtigste Fußball-Industrie der Welt entstanden ist - mit Ticketpreise, die sich kaum jemand mehr leisten kann.

Vergessen wir deshalb die Weltmeisterschaft. Für meinen Teil kann ich es kaum bis zur neuen Saison im Herbst erwarten, um dann wieder ins "Karli" zu gehen und meine Nase gegen den Zaun zu drücken. Auch wenn ich damit von meiner Familie, allesamt Manchester United Fans, enterbt werde.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Kate Connolly berichtet für den britischen Guardian aus Berlin.

© SZ vom 5./6.6.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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