Mein Deutschland:Fähnchen in vielen Mustern

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Deutschland entdeckt das Wir-Gefühl neu, damit hatte Polen nie ein Problem.

Agnieszka Kowaluk

Die Fähnchen fand ich neulich beim Aufräumen. Unsere Tochter hatte sie 2006 für die ganze Familie gebastelt. Wir hatten das Fußball-WM-Spiel Deutschland gegen Polen geguckt und dabei dem Kind zuliebe vor dem Fernseher mit den Fähnchen gewedelt. Das vermeintlich deutsche (Braun-Gelb mit Glitzer) hielt sie, wir durften die Fähnchen in gewelltem braun-rosa Muster und strengem Weiß-Rot unter uns aufteilen.

Fußballfans schauten sich am 28. Juni 2012 auf der Fanmeile am Brandenburger Tor in Berlin das EM-Halbfinale Deutschland gegen Italien an. Die Fußball-EM in Polen und der Ukraine dauerte vom 8. Juni bis zum 01. Juli 2012. (Foto: dpa)

"Ihr Deutschen", hielt ich vor vielen Jahren Studienfreunden vor, "was seid ihr für Fußballfans? Ihr müsst für die Euren jubeln, ich für die Meinen, so geht das!" Jetzt musste ich niemandem mehr eine Lektion in Patriotismus erteilen, als Einzige die Deutschen anfeuern und mich bei politisch korrekten TV-Sitzungen langweilen. Bei der Fußball-EM habe ich fürs Jubeln zum Glück meine Tochter - und die Deutschen haben ihren Bezug zum Deutsch-Sein und ihre Fahnen in Schwarz-Rot-Gold wiederentdeckt.

Soziologen untersuchten nach 2006 den deutschen "Fußball-Patriotismus", forschten nach Gründen für die regelmäßig alle zwei Jahre aufflammende Vaterlandsliebe und äußerten angesichts des neu entdeckten Wir-Gefühls der Deutschen die Sorge, ob die Übergänge zwischen Patriotismus und Nationalismus nicht allzu fließend seien. Der Stolz auf die eigene Nation, der bei den Deutschen die Scham der Nazivergangenheit ersetzt habe, sei immer verbunden mit der Abwertung der anderen. Polen, die nie ein Problem mit ihrem Nationalgefühl hatten und bei denen der Begriff "Patriotismus" nicht negativ besetzt ist, verhalten sich nun auch als typische EM-Gastgeber: überall Fahnen in Weiß-Rot, alberne Aufkleber, Perücken, Werbesprüche. Sollten das auf beiden Seiten nur Requisiten sein und eine willkommene Kulisse für diejenigen Pseudo-Fußballfans, die das Deutschtum eines Mesut Özil diskutieren oder in Warschau mit pseudopolitischen Parolen eine Gruppe russischer Fans angreifen?

Ich würde die Bedenken der Soziologen bezüglich einer Gesellschaft, in der das Zusammengehörigkeits- und Selbstwertgefühl mit den Erfolgen der eigenen Mannschaft wiederhergestellt werden muss, niemals auf die leichte Schulter nehmen. Auch stimmte mich das Flaggenaushängen sowohl in Warschau als auch in München immer schon nachdenklich. Wenn ich aber sehe, wie polnische EM-Volontäre mit fremden Mannschaften mitfiebern, wie ganze Landstriche "unsere Tschechen" (nachdem sie keine Rivalen mehr waren) anfeuern und "unsere Portugiesen" begrüßen, oder irischen Fans nach deren Niederlage ein Trostlied singen, so denke ich: Vielleicht muss man sich so richtig zu eigenen Farben bekennen können, um die anderen auch hübsch zu finden und mit deren Trägern umso rauschhafter zu feiern?

Solange polnische Jugendliche voller Scham die Hooligans als hirnlose Idioten bezeichnen und sich geistesgegenwärtig bei den Russen auf allen möglichen Foren auf Englisch und Russisch für die Taten ihrer Landsleute entschuldigen, solange der deutsche Sportminister die Verunglimpfung Mesut Özils mit scharfen Worten kommentiert, so lange mache ich mir weder wegen des neuen deutschen Nationalismus noch wegen des polnischen Pseudo-Patriotismus einen Kopf.

Am Sonntag werde ich wieder mit einem Fähnchen wedeln. Die Farbe suche ich mir noch aus.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Agnieszka Kowaluk ist Journalistin und Literatur-Übersetzerin. Sie berichtet unter anderem für die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza.

© SZ vom 30.6./1.7.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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