Mein Deutschland:Es ist eine Erklärung!

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Flucht aus China oder der ehemaligen DDR - die Betroffenen sind immer verzweifelt.

Shi Ming

Vor Jahren kursierte die Nachricht: Zwei Minenbesitzer aus China seien in die chinesische Botschaft in Sambia geflohen, nachdem sie und ihre Bodyguards sambische Minenarbeiter erschossen hätten. Sie hätten in der Botschaft Schutz gefunden. Ein Skandal, der einige Zeit später zur Folge hatte, dass bei der darauffolgenden Wahl der prochinesische Präsident in der Hauptstadt Lusaka abdanken musste und Pekings Afrika-Politik ins Wanken geriet. Vor Monaten bestätigte die US-Botschaft in Peking: Wang Lijun, Polizeichef von Chongqing, sei in das US-Generalkonsulat in der südwestchinesischen Metropole Chengdu geflohen, nachdem ihm sein Chef, KP-Politbüromitglied Bo Xilai, angeblich mit allen Mitteln nach dem Leben getrachtet hatte. Die Konsequenz dieser Flucht ist noch im Gange: Ein grausamer Machtkampf mit offenem Ende für die größte Kommunistische Partei dieser Erde. Vor Tagen gelang auch dem Dissidenten Chen Guangcheng aus der Küstenprovinz Shandong die Flucht in die US-Botschaft in Peking.

Das Foto zeigt den blinden chinesischen Bürgerrechtler Chen Guangcheng (R) mit seiner Familie. Chen Guangcheng wartet in einer Klinik in Chaoyang auf seine Ausreise in die USA. Der blinde Aktivist sorgt sich um das Schicksal von Angehörigen und Freunden. Er fürchtet, dass örtliche Funktionäre an ihnen Rache üben. (Foto: dpa)

Mich erinnert all dies an jene DDR-Bürger, die 1989 in die bundesdeutsche Botschaft in Prag geflohen sind. Im Schutz exterritorialer Hoheit errangen diese Menschen - am Ende nicht nur für sich - die Freiheit. Ihre Flucht in eine Botschaft zeitigte, ob sie wollten oder nicht, eine weltgeschichtlich markante Wirkung. Es mag sein, dass in Tausenden Details die deutsche Erfahrung nicht zu vergleichen ist mit dem, was mit China und Chinesen passiert. Dennoch: Die völkerrechtliche Unantastbarkeit einer Botschaft bietet politisch einen so oder so höchst brisanten und vielsagenden Schutz. Je nachdem wer bei wem welchen Schutz in Anspruch nimmt, zeigen sich Verschiebungen im Kräftemessen zwischen den Staaten: Kann und will sich das kleine Sambia einen Affront gegen die aufstrebende Großmacht China leisten? Kann und will es sich der weltpolitische Newcomer Peking mit der Supermacht USA verscherzen? Oder: Konnten und wollten die Machthaber in Ostberlin es mit der westlichen Allianz aufnehmen, als der eigene Halt in Moskau nicht mehr felsenfest war?

In vielen Fällen spiegeln die "Botschaftsphänomene" aber auch Verhältnisse zwischen Bürgern und Staaten - zwischen Bürgern und ihrem eigenen Staat und zwischen ihnen und einem anderen. Hegen Mörder Vertrauen in den Schutz ihres Vaterlandes, ehrt dies nicht die betroffene Hoheit. Vertrauen sich Verfolgte, um den Krallen des eigenen Staats zu entkommen, dem Schutz durch einen anderen Staat an, gibt das immer zu denken, wie sehr die Betroffenen in ihrem eigenen Lande verzweifeln müssen - und warum. Wenn vor Jahren in Peking zahlreiche Nordkoreaner in westliche Botschaften, egal in welche, zu flüchten suchten, um auf Umwegen nach Südkorea zu gelangen, lässt sich mit guten Gründen fragen, wie wohl die nordkoreanische Gesellschaft verfasst ist. Ja, manche Beobachter fragten sich sogar, wie liberal China geworden ist, dass es einen solchen Affront gegenüber dem Verbündeten Nordkorea duldet.

Brisant sind diese Verhältnisse gewiss auch im Umkehrschluss: Wenn es selbst eiserne Diktaturen in vielen Fällen nicht wagten, den exterritorialen Schutz eines anderen Staates zu brechen, um die Geflohenen, also auch die Republikflüchtlinge der DDR, zu ergreifen, wie absolut und unentrinnbar ist ihre viel propagierte und genauso oft geglaubte Allmacht eigentlich noch?

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Shi Ming arbeitet als Freier Journalist und Publizist. Er lebt in Freiburg.

© SZ vom 12./13.05.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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