Mein Deutschland:Eine Hoffnung, die bleibt

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Sozialer Aufstieg, gesellschaftliche Anerkennung und politisches Mitspracherecht, ohne die eigenen Wurzeln verleugnen zu müssen: Das war bislang kaum möglich.

Celal Özcan

Ich betrachte ein Schwarzweißfoto, das Mitte der 60er Jahre in Köln entstand. Es zeigt vier Männer, Luigi, Mehmet, Nico und Javier, alle Ende 20, schlank, in changierenden Anzügen und schmalen Krawatten. Keiner von ihnen lächelt, sie blicken wehmütig in die Kamera. Hinter ihnen ein einstöckiges Wohnheim mit offenen Fenstern. In dem Brief, dem das Foto beiliegt, schreibt Mehmet: "Das sind meine Zimmergenossen aus dem Wohnheim."

Vielleicht erfüllt sich in der nachfolgenden Generation, was Mehmet selbst nicht gelingen konnte. (Foto: Foto: dpa)

Die meisten im Wohnheim, fährt er fort, seien Italiener. Zwischen ihnen und den Türken gebe es öfter Ärger, weil die Italiener in den Töpfen der Türken Schweinefleisch kochten. Mehmet versteht sich am besten mit Nico, sie tanzen zusammen Sirtaki. Javiers Tanz heißt Flamenco, er hat Ähnlichkeiten mit dem Bauchtanz, nur dass er leidenschaftlicher, herausfordernder ist. Sonntags, schreibt Mehmet, herrscht in Deutschland absolute Ruhe, und die Familien strömen in die Kirche. Die Deutschen seien hilfsbereit, aufrichtig und fleißig.

Das Schicksal dieser vier Männer kreuzte sich am Münchener Hauptbahnhof. Kennengelernt haben sie sich im Wohnheim. Auf einem anderen Foto stehen die Koffer hinter der Tür, als wären sie nie ausgepackt worden. Vier Jahre später zogen sie aus dem Wohnheim aus und holten zuerst ihre Söhne nach Deutschland, zwei Jahre danach kam die ganze Familie.

Luigi, Javier und Nico wurden nacheinander EU-Bürger. Weil sich die Lebensverhältnisse im Herkunftsland zum Besseren entwickelten, ging Luigis Sohn Giovanni nach Messina zurück, studierte Flugzeugingenieur und blieb in Italien. Auch Nico schickte seine Kinder zum Studieren nach Griechenland. Europa, dessen Grenzen mit der Zeit verschwanden, wurde für Luigi, Javier und Nico zur selbstverständlichen Heimat.

Rückkehr immer wieder verschieben

Mehmets Schicksal nahm einen anderen Verlauf. Die politische und wirtschaftliche Instabilität seiner Heimat, einem Land außerhalb der EU, ließ ihn die Rückkehr immer wieder verschieben. Auch seine Verwandten in der Türkei rieten ihm von einer Rückkehr ab. Die Jahre vergingen, und allmählich gewöhnte er sich an den Gedanken, in Deutschland zu bleiben. Allerdings war er auf diese Situation gar nicht vorbereitet, er hatte nicht einmal richtig Deutsch gelernt.

Heute muss Mehmet sich anhören, er wolle sich nicht integrieren. Dabei hat er das Gefühl, sich auf seine Weise eingefügt zu haben. Einer Studie der Forschungsinstitute Ifo und Liljeberg Research zufolge bezeichnen 90 Prozent der in Deutschland lebenden Türken den Respekt gegenüber anderen Religionen und Kulturen als einen wichtigen Wert und bejahen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Optimistisch in die Zukunft

Nach einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann-Stiftung fühlen sich 58 Prozent der Türkischstämmigen stark oder wenigstens mittelstark integriert. Ebenso viele jedoch haben sich ihrer Herkunft wegen schon einmal ungerecht behandelt gefühlt. Trotzdem sehen sie ihre Zukunft in Deutschland optimistisch. Sogar 59 Prozent aller Türkischstämmigen sind zuversichtlich, dass sie in diesem Land wichtige Positionen in Politik und Wirtschaft einnehmen werden.

Mehmet, der im Gegensatz zu Luigi, Nico und Javier immer noch kein kommunales Wahlrecht hat, ist inzwischen Rentner. Sein Enkel studiert Jura in München. Auf ihm ruhen Mehmets Hoffnungen, dass sich in der nachfolgenden Generation erfüllt, was ihm selbst nicht gelingen konnte: sozialer Aufstieg, gesellschaftliche Anerkennung und politisches Mitspracherecht, ohne die eigenen Wurzeln verleugnen zu müssen.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Celal Özcan arbeitet für die türkische Zeitung Hürriyet.

© SZ vom 09.01.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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