Mein Deutschland:Ein zu langer Kuss

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Eine Serie über den Sultan Süleyman erhitzt die Gemüter in der Türkei.

Celal Özcan

Manchmal habe ich das Gefühl, in Deutschland gibt es zu viel Ernst und zu wenig Spielraum für Spott und Satire, jedenfalls im Vergleich zur Türkei. Man überlege nur, wie das Jahr 2011 in Deutschland politisch begonnen hat. Kaum war die Aufregung um den Dioxinskandal abgeebbt, begannen Feldpost- und Gorch-Fock-Affäre. "Ekel-Prüfung im Abfall-Boot", lautete die Bildunterschrift eines großen Boulevardblatts. Gleich mehrere schwerkalibrige Ereignisse in einem Monat - das lässt den Eindruck entstehen, Deutschland sei das Land der handfesten Skandale.

In der Internationalen Filmschule Köln lernen Schauspieler küssen. In einem mehrstündigen Kursus können sich Schauspieler unter Anleitung in die Hintergründe des "Küssens vor der Kamera" einführen lassen. (Foto: DPA)

Die Türken haben zur Zeit ein ganz anderes Problem, das ins 16. Jahrhundert zurückreicht: Ein Dokudrama um den osmanischen Sultan Süleyman den Prächtigen erhitzt die Gemüter. In der mehrteiligen Serie ist zu sehen, wie der Prächtige in seinem Palast Wein trinkt, freizügig gekleidete Frauen aus seinem Harem beim Bauchtanz präsentiert und sich mit Lieblingsgemahlin Roxelane vergnügt. 75 000 Beschwerdebriefe konservativer und religiöser Zuschauer gingen beim türkischen Rundfunk- und Fernsehrat ein. Der Prächtige knutsche ganze sechzehn Minuten lang mit Roxelane - das sei zu viel, monierten Kritiker. Außerdem sei der Film realitätsfern, denn die Osmanen küssten sich aus Furcht vor Ansteckung nicht auf den Mund.

Diese türkische Haremsgeschichte aus ferner Vergangenheit ist jetzt in einem Land mitten in Europa Wirklichkeit geworden. In Italien heißt das Haremstreiben "Bunga Bunga". Aus Haremssklavinnen wurden Callgirls oder Edelprostitutierte, aus Sultan Süleyman wurde Silvio der Prächtige. Die Zeitungen Italiens beschäftigen sich seit Monaten mit nichts anderem als mit den Eskapaden ihres Ministerpräsidenten. Sogar der Vatikan sah sich zu einer Verlautbarung gezwungen und forderte die Politiker zu moralisch untadeligem Verhalten auf. Moralisch? Die Bemerkung von Sultan Berlusconis Gespielin Ruby Rubacuore, "der Herzensbrecherin", sie sei "Berlusconis Arsch", ging um die Welt. Die italienischen und deutschen Medien zitierten sie problemlos, während die türkische Presse und die New York Times sich mit Pünktchen oder Umschreibungen behelfen mussten. Dabei ist das verbotene "four letter word" fuck bei Amerikanern wie Türken im Alltag ein viel benutztes Füllwort.

Alles bloß eine Frage der Mentalität? Worauf es ankommt, ist doch, wie man mit den Problemen umgeht. In den achtziger Jahren musste sich der türkische Lyriker Can Yücel, der mit schneidender Satire immer wieder den Finger auf die Wunde legte, vor Gericht gegen den Exhibitionismus-Vorwurf zur Wehr setzen. Er hatte in einem seiner Gedichte das Wort "Arsch" verwendet. In satirischer Zuspitzung sagte er, wie der Lastenträger beim Anheben der Last, so müsse auch ein Dichter beim Schreiben den Arsch zusammenkneifen - eine Anspielung auf die Zwänge und Verbote, die in der Türkei nach dem Militärputsch damals herrschten. Als der Richter ihm vorwarf, die Verwendung dieses Wortes sei ein Straftatbestand, verteidigte sich der Dichter: Man müsse die Dinge beim Namen nennen. Dioxin, Gorch Fock, Sultan Süleyman oder Silvio Berlusconi - der Skandal hat viele Namen, und jedes Land schafft sich seine eigenen. Manchmal hilft es nur, ihnen mit Humor zu begegnen.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Celal Özcan arbeitet für die türkische Zeitung Hürriyet.

© SZ vom 29./30.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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