Mein Deutschland:Ein Signal kommt an

Lesezeit: 2 min

Nehmt die Energie über unseren Köpfen.

Celal Özcan

Das Unwort des Jahres steht schon heute fest: Super-GAU. Seit 11. März starrt die Welt auf die Atomkatastrophe in Fukushima. Und ihr Ende ist nicht absehbar. Erhöhte Radioaktivität wird inzwischen auch in Deutschland gemessen, angeblich aber liegt sie unterhalb der Grenzwerte. Das Signal, das Fukushima aussendet, scheint nirgendwo klarer angekommen zu sein als hier in Deutschland. Das dreißig Jahre alte Anti-Atomkraft-Logo "Atomkraft? Nein danke" mit der lachenden roten Sonne ist zeitgemäßer denn je. In den Medien erörtern Expertenrunden komplizierte technische Details von Atomanlagen.

Fahnen mit der Aufschrift "Atomkraft? Nein danke" sind am 26. März 2011 in Hamburg, bei einer Demonstration für die sofortige Abschaltung von Atomkraftwerken, zu sehen. Die Dänin Anne Lund aus Brabrand bei Aarhus ist als Erfinderin der Anti-Atom-Sonne wieder in aller Munde, seit die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima dem von ihr 1975 entworfenen Symbol der Atomkraftgegner zu gewaltiger neuer Popularität verholfen hat. (Foto: dpa)

Anders in der Türkei, wo solche Experten fehlen, denn dort steht bisher noch kein einziges Atomkraftwerk. Das wird sich aber bald ändern. In einem der am häufigsten von Erdbeben heimgesuchten Länder laufen die Vorbereitungen für den Bau von ersten AKW auf Hochtouren, unbeeindruckt von der Katastrophe in Japan. Nach den Plänen der türkischen Regierung sollen 2013/14 zwei Atomkraftwerke in Betrieb gehen, bis 2023 werden vier weitere folgen. Während die Russen in Akkuyu am Mittelmeer das erste türkische Atomkraftwerk bauen (der gleiche Typ wie im tschechischen Temelin), wird mit japanischen Anbietern über den Bau eines weiteren an der Schwarzmeerküste verhandelt.

Umfragen zufolge sind 60 Prozent der Türken gegen den Bau von Atomkraftwerken. Ihr Argument ist so simpel wie einleuchtend: Sonnenenergie. "Wir haben die Energie über unseren Köpfen, und wir lassen sie ungenutzt", sagen sie. Doch die Türkei, wo der Tag länger ist als die Nacht, investiert nicht in Solarkraftwerke. Das weltgrößte solarthermische Kraftwerk steht in Spanien und liefert Strom für 600 000 Menschen.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nimmt die Sache auf die leichte Schulter: "Gibt es Risiken? Natürlich gibt es sie. Aber steigen wir etwa nicht ins Auto, nur weil es ein Restrisiko gibt? Oder meiden wir die Bosporus-Brücke? Nein, obwohl die Drahtseile reißen könnten." Und dann fährt er mit Blick auf die Atomkraftgegner fort: "Diese Leute drücken immer nur die No-Taste."

Erdogan und der französische Präsident Nicolas Sarkozy können einander nicht ausstehen, in der Frage der Atomkraft sind sie sich gleichwohl einig. In Deutschland dagegen, so scheint es, stehen die Zeichen auch auf höchster politischer Ebene auf "Ausstieg". Es besteht Hoffnung, dass das Land eine Pionierrolle für erneuerbare Energie spielen wird - leuchtendes Beispiel für die ganze Welt. Seit 1954 gerieten weltweit fünf Atomkraftwerke außer Kontrolle, jedes Mal war das Ausmaß der Katastrophe verheerender. Heute umspannt ein Netz von 442 AKW die Erde, 37 weitere sind im Bau, 83 in Planung, wegen des Energiehungers boomender Volkswirtschaften. Doch damit steigt das Risiko, und der Ausstieg wird immer schwieriger.

Eine Geschichte des persischen Sufi-Dichters Saadi Shirazi erzählt von einem Mann, dessen Haus eingestürzt ist. Er beklagt sich beim Allmächtigen, warum er ihn nicht gewarnt habe, sodass er Vorkehrungen hätte treffen können. Da hört er aus den Trümmern seines Hauses eine Stimme, die sagt, die Risse im Mauerwerk und der abbröckelnde Putz seien die Signale gewesen. "Doch du hast die Risse und die Nachricht aus meinem Mund mit Lehm zugeschmiert." Fukushima könnte und müsste das letzte Warnsignal an die Menschheit gewesen sein.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Celal Özcan arbeitet für die türkische Zeitung Hürriyet.

© SZ vom 09./10.04.11 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: