Mein Deutschland:Ein Funken Wahnsinn und wahre Größe

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Weckt dieses Spektakel nicht eine tiefe Sehnsucht in uns?

Pascale Hugues

Wer außer den Engländern würde es wagen, sich völlig ungeniert in einem solchen Rausch zu suhlen? Oben: der Kuss auf dem Balkon des Buckingham Palace. Unten: die Hausfrauen am Rand der Ohnmacht. Diese Uniformen, Säbel, Kaleschen, Hüte ... bonbonfarben bis zum Erbrechen; bis man, im Schneidersitz vor dem Fernseher, nur noch schreien möchte: Stopp! Aufhören! Genug! Zu kitschig! Grotesk! Albern! Anachronistisch! Egal, wie viele verächtliche Adjektive ich aufzähle, wie sehr ich versuche, dieses Spektakel für sentimentale Backfische zu disqualifizieren. Am Freitag bin ich vor Zärtlichkeit für dieses Volk, das immer ein wenig am Rand von Europa steht, dahingeschmolzen.

Königliche Hochzeit: Nach ihrer Vermählung in Londons Westminister Abbey am 29. April 2011 zeigte sich das Brautpaar Kate und William mit der Familie auf dem Balkon von Buckingham Palace. (Foto: dpa)

Ein Volk auf seiner Insel, stockkonservativ und wunderbar exzentrisch zugleich. Zeugt das nicht von einem wahrhaft souveränen Charakter, wenn man Lächerlichkeit nicht scheut? Wie fade und unsicher wirken daneben unsere kontinentalen Demokratien. Ein läppischer Hampelmann: Berlusconi mit seinen Nymphchen und Liftings. Ein hysterisches Paar: unser Nicolas und seine Carla. Die deutsche Kanzlerin verströmte den Flair einer märkischen Hausfrau, Guido Westerwelle mit seinem Udo-Walz-Chic.

In Deutschland trägt selbst ein Metzgerssohn einen Siegelring mit dubiosem Wappen. Wie peinlich wirkt er neben der Königin, die niemals ihre Würde verliert, ob sie nun bei einem Fabrikbesuch eine Schutzhaube trägt oder auf dem Weg zur Parforcejagd Gummistiefel. Selbst ein Karl-Theodor zu Guttenberg wirkt neben den Royals sehr hellblaublütig. Zu adrett, zu emsig damit beschäftigt, seinem Auftritt den letzten Schliff zu verpassen... Weckt diese Aufführung, die die britische Monarchie uns gerade geboten hat, nicht eine tiefe Sehnsucht in uns?

Seit mehr als einem halben Jahrhundert sitzt die Königin nun auf ihrem Thron. Im großen Mahlstrom der Globalisierung, der alles immer schneller mit sich reißt, biegt, verändert, bleibt die Königin aufrecht wie eine Eibe. Mit dünnem Lächeln, Dauerwelle, düsteren schottischen Schlössern. Zweifellos ist Elisabeth II. die letzte dieser Gattung. Die Königin trägt einen Funken Wahnsinn in sich, und darin liegt ihre wahre Größe. Ja, man muss schon einen Schuss haben, um eine solche Hochzeit zu veranstalten.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

© SZ vom 30.04./01.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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