Mein Deutschland:Ein flotter Heiliger - davon träumt Deutschland

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Kein französischer Präsident hätte die deutschen Kriterien erfüllen können.

Pascale Hugues

Verlangen die Deutschen nicht zu viel von Ihrem Präsidenten? Er muss ein perfekter moralischer Kompass sein, ohne das geringste Zaudern. Er soll ein empathischer Redner sein, fähig, die von der Wirtschaft verunsicherten Bürger zu besänftigen. Und er muss noch dazu die immense Sehnsucht nach Glamour befriedigen. Ein flotter Heiliger. Das ist der Präsident, von dem die Deutschen träumen.

Bundespräsident Christian Wulff wirft im Schloss Bellevue in Berlin nach einer Erklärung am 22. Dezember 2011 bezüglich seiner Kreditaffäre beim Verlassen des Grossen Saals seinen Schatten auf eine Wand. Wulff hatte nach Angaben der "Bild"-Zeitung probiert, die Berichterstattung des Blattes über einen Privatkredit zur Hausfinanzierung zu unterbinden. In einem Anruf bei Chefredakteur Diekmann soll Christian Wulff sogar mit einem Strafantrag gegen die Journalisten gedroht haben. (Foto: dapd)

Wir Franzosen sind nicht so anspruchsvoll. De Gaulle war ein Heiliger, aber es wäre unmöglich gewesen eine Homestory über ihn und seine fromme Gattin Yvonne an Gala zu verkaufen. Mitterrand war ein Feingeist, aber auch ein Filou, der nicht zögerte, ganz Paris einem Lauschangriff auszusetzen. Sarkozy ist "blingbling", zeigt einen neureichen Geschmack für alles was glänzt und teuer ist, aber es fehlt ihm an Grandezza. Keiner unserer französischen Präsidenten hätte die deutschen Kriterien erfüllt.

Mein Land ist ein unendliches Reservoir an Affären und Skandalen jeder Couleur. Vom Bürgermeister eines Provinzkaffs bis zum Präsidenten der Republik, jedem seine Casserole - sein Topf, so nennt man im Jargon die illegalen Machenschaften im Schatten des Amts. Alles da. Deswegen interessiert die Wulff-Affäre niemanden in Frankreich.

Gerade als die Casserole des armen Christian Wulff enthüllt wurde, ist der ehemalige Präsident Jacques Chirac verurteilt worden. Er wurde schuldig gesprochen, in seiner Zeit als Pariser Bürgermeister, 28 treue Parteisoldaten auf hochdotierte Posten der Gehaltsliste des Rathauses eingestellt zu haben.

Da werden Sie wohl verstehen, dass man aus französischer Sicht kein Fass aufmacht, nur weil sich Wulff einen günstigen Kredit von 500 000 Euro von einer befreundeten Industriellengattin borgt. Das ist nichts Illegales, er hat nicht in die Staatskasse gegriffen, um ein Liebesnest nach seiner Scheidung zu bauen. Nie hätte ein französischer Politiker wegen einer solchen Kleinigkeit Probleme bekommen. Geschäftliches und Privates ein wenig zu vermischen, das schreckt in Frankreich keinen mehr auf.

Während die Wulff-Affäre tropfenweise ihre tägliche Enthüllungen lieferte, erfuhren wir vom Tod Václav Havels. Wir haben uns vor unserem Bildschirm erschrocken: Havel ist tot! Eine Minute innehalten. Großer Respekt. Tausende Bilder laufen vor dem inneren Auge ab. Einer der letzten Großen hat die Bühne verlassen. Von dieser Gattung gibt es fast keinen mehr. Christian Wulff und Nicolas Sarkozy gehören sicher nicht dazu.

Ich weiß, der Vergleich ist ziemlich billig. Nicht jeder hat die Chance an einem historischen Wendepunkt, ein Land zu führen und dessen Häutungsprozess zu beeinflussen. Sicher verleiht die samtene Revolution in Prag einen anderen Elan als das mühsame Aufsteigen eines strebsamen ehemaligen Hinterbänklers. Im Widerstand gedeiht ein anderes Rückgrat, als in dem gemütlichen Kokon von Großburgwedel und Neuilly.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Pascale Hugues arbeitet für das französische Nachrichtenmagazin Le Point.

© SZ vom 31.12.2011/01.01.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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