Mein Deutschland:Die Tonart der Stille

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In Deutschland gibt es in diesem Jahr viele Werke nordamerikanischer Komponisten zu hören.

John Lambert

Für Mariss Jansons, Chefdirigent der BR-Symphoniker (hier beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker am 1. Januar 2012), ist Dirigent ein mystischer Beruf. (Foto: AFP)

Nun ist Herbst. Das UM Festival in der Uckermark ist Vergangenheit, in München tobt das Oktoberfest und in Berlin feiert man die Berliner Festspiele. In diesem Jahr werden viele Werke nordamerikanischer Komponisten gespielt, ganze Abende mit Elliott Carter, Charles Ives, Morton Feldman und John Cage. Das Concertgebouw-Orchester aus Amsterdam unter Mariss Jansons ist auch dabei. Im Grunde aber dirigiert Mariss Jansons kein Orchester, sondern einen ganzen Saal, mitsamt dem Publikum. Schon nach dem ersten Werk, Arnold Schönbergs "Ein Überlebender aus Warschau", hätte ich zufrieden nach Hause gehen können. Ich blieb aber, um Igor Strawinskys "Psalmensymphonie" zu hören, einerseits weil ich sie zum ersten mal am Banff Centre in den kanadischen Rockies gehört habe - eine schöne Erinnerung - andererseits weil ich neugierig war, wie Jansons mit den gleichmäßigen, unaufhaltsamen Paukenschritten am Ende umgehen würde.

Doch ehe der erste Satz zu Ende ging, passierte etwas Sonderbares. Kurz vor der Holzbläser-Fuge hielt Jansons inne, verharrte wie plastifiziert und erzeugte damit eine überraschende Stille, bevor die Oboe ansetzte. Habe ich mir das nur eingebildet? Als sich aber das Werk seinem majestätischen Ende näherte, war es nicht zu verkennen: Reglos, wie durch die Allmacht des Herrn erschrocken, die Hände emporgehoben und die Knie krumm, blickte Jansons himmelwärts und wirkte dabei wie ein erstarrtes Bild des erhabenen Leidens.

Sicher haben alle Stillen eine individuelle Tonart. Jetzt, während sich Jansons langsam von seiner Starre löste, erschien mir plötzlich das Bild des jungen Dirigenten Andreas Peer Kähler und wie er vor einigen Jahren mit seiner Deutsch-Skandinavischen Jugend-Philharmonie Benjamin Brittens "War Requiem" dirigierte. Den kommenden Sturm wohl voraussehend, hob er damals beim letzten Takt seine Hand in die Höhe, die er dann mit kaum auszuhaltendem Nachdruck senkte, und die er, als alles still war, äußerst langsam fallen ließ, um sekundenlang nur die alles überragende Stille des Hauses zu begleiten. Auch heute bleibt für mich diese Erfahrung ein Sinnbild des In-Deutschland-Seins: kompromisslos, erzwungen, besorgniserregend, tief, umhüllend, nachgebend, elastisch, still. Mein Deutschland ist dieser allumfassende Moment. Nur John Cage hat es besser gemacht, mit seinem "4'33''". Schade nur, dass bei ihm überhaupt keine Musik zu hören war.

Der Kanadier John Lambert ist Final Editor der englischen iPad-Ausgabe des Monopol Magazins . Er lebt in Berlin.

© SZ vom 29./30.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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