Mein Deutschland:Die Ohren voll gemeckert

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Ein chinesisches Sprichwort sagt: Die Mönche in der Ferne können besser beten.

Shi Ming

Irgendwann kam ein Anruf: Können Sie uns in wenigen Zeilen beschreiben, wo Sie den größten Unterschied zwischen China und Deutschland sehen? Sie können so kreativ sein, wie Sie wollen. Es wäre allerdings gut, wenn Ihre Beschreibung etwas Beschwingtes einbrächte. Sie wissen ja, wir Deutschen neigen zu sehr zu Bierernst. Hörer aufgelegt. Ich blieb verdutzt zurück. Den größten Unterschied? Liegt er nicht im Systemvergleich oder wenigstens darin, was System hat? Wie soll ich so Komplexes beschwingt beschreiben?

Teilnehmer des Peking-Marathons auf dem Tiananmen-Platz in Peking mit einer riesigen chinesischen Staatsflagge vor Beginn des Laufs am 16. Oktober 2011. (Foto: AP)

Na dann: In meinen Augen wird in Deutschland am meisten gemeckert, auch über die Unsitte zu meckern, auch dann, wenn es anscheinend gar nichts zu meckern gibt. So meckerten vor mir zwei deutsche Wissenschaftler, wie wenig die Bundesregierung in die Forschung investiere, aber auch darüber, wie wenig für Wissenschaftler hierzulande Effektivität bei der Forschung zähle. Beide Intellektuelle bekundeten ihre Beklommenheit zu einer Zeit, als bekannt wurde, dass deutsche Wissenschaftler den Nobelpreis für Chemie und Physik erhalten hatten.

Ein anderes Mal meckerte mir ein deutscher Sinologe die Ohren voll: Schauen Sie mal, wie unmöglich einige Kollegen - und noch mehr die Medienleute hier - China-Bashing betreiben! Wir Deutsche müssen uns doch an der eigenen Nase fassen, was wir nicht alles verbrochen haben! Außerdem: Wer versteht schon genug von China, um alles zu beurteilen? Wenn Sie sehen, wie viel Chinesen über Deutschland wissen und wie wenig umgekehrt! Haben Sie schon mal einen Chinesen über Deutschland meckern hören?

In meiner Heimat tut man das in der Tat nicht. Ein Sprichwort sagt: Die Mönche in der Ferne können besser beten. Also lobt man das ferne Deutschland und die fernen Deutschen über den grünen Klee. Und das querbeet: Da wird die Demokratie gelobt, aber auch die technische Präzision, bewundert werden die feinen Autos - aber auch die Uniformen der Wehrmacht. Am schönsten seien die der SS, heißt es im Internet, wo deren Abbildungen herumgeschickt und kommentiert werden. Aber kaum einer meckert - keine Spur von Deutschland-Bashing.

Jede Wette: Wenn ich diese Lobhudelei hierzulande als das leuchtende Vorbild für Deutsche deklarieren würde, zumal mit Verweis auf Bewunderung für die schönen SS-Uniformen, würde es einen Aufschrei geben. Meckern wäre kein Ausdruck. Man würde bis zu schamvollem Protest gehen, um zu versichern, wie falsch ich doch läge mit den Einschätzungen - selbst wenn diese gar nicht von mir stammen.

Von wem auch immer, hochverehrter Herr Shi, würde es heißen, aber Sie müssen wissen: Es gibt bei uns in Deutschland zwar Demokratie, doch unsere technische Präzision ist mittlerweile eine Mär, und die schönen Autos verpesten die Luft. Und das mit der SS beschämt uns Deutsche zutiefst, denn . . .

So viel, wie jener Sinologe mir versichert hatte, wissen wir Chinesen also doch nicht über Deutschland. Oder doch? Jedenfalls wünsche ich mir, Chinesen könnten von diesem systemhaften Meckern in Deutschland etwas lernen. Und andererseits wünsche ich mir, dass hier in Deutschland weiter gemeckert wird, wenn Chinesen ein Verbrechen begehen. Auch wenn mir vieles an der deutschen Obsession zu allzeitigem Meckern auf den Geist geht. Nee, nee, nee, diese Herummeckerei, echt!

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Shi Ming arbeitet als freier Journalist und Publizist.

© SZ vom 15./16.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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