Mein Deutschland:Die Gedanken sind frei

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Documenta-Besucher stehen am 1. September 2012 in der Kasseler Karlsaue vor der Skulptur "Idee di Pietra" von Guiseppe Penone. Bei der 13. Documenta (9. Juni bis 16. September 2012) zeigten mehr als 150 Künstler aus 55 Ländern an so vielen Orten der Stadt wie nie zuvor ihre Kunstwerke. (Foto: Uwe Zucchi/dpa. Vg-Bildkunst. Bonn 2012)

Zahlreiche deutsch-kanadische Kunstbegegnungen im vergangenen Jahr.

John Lambert

Mit Ausstellungen von Künstlern wie Jeff Wall, Jeremy Shaw und Rodney Graham war das vergangene Jahr reich an deutsch-kanadischen Kunstbegegnungen. Am überraschendsten aber waren für mich die 100 Tage der Documenta in Kassel. Im Einklang mit dem radikalen Ton des Jahres, streikte die Kuratorin gegen sinngebende Schaukonzepte: Wenn überhaupt, ergebe sich der Sinn der Ausstellung aus den vorhandenen Kunstwerken, meinte sie. Wenn die Werke überhaupt zu sehen sind, dachte ich.

Denn viele davon, wie "Dog Run" des Kanadiers Brian Jungen, lagen am anderen Ende der Karlsaue und waren nur für schlaue Fahrradausleiher zugänglich. Andere, die sich in Außenstandorten in Kabul, Kairo und Banff in den kanadischen Bergen befanden, waren sowieso nicht ohne Weiteres zu betrachten. Noch andere waren schlichtweg unsichtbar. "The Invisible Pull" des Engländers Ryan Gander etwa, bespielte mit einer leichten Brise die Räume der Fridericianums. Frisch und frech wehte der Wind über das einzige Werk im ersten Raum: einen Brief, in dem Kai Althoff seine Teilnahme an der Schau ablehnt. Nicht nur der Künstler also, auch das Kunstwerk war abwesend. Ebenfalls unsichtbar waren die Akteure in "This Variation" des Deutsch-Briten Tino Sehgal, obwohl sie manchmal direkt vor dem Betrachter im stockdunklen Bode-Saal Lieder wie "Good Vibrations" sangen. Zum Glück machte es bei so wenig Licht nichts aus, dass die Seiten, die das Werk beleuchten sollten, im Begleitbuch völlig fehlten.

Rückblickend war es also ganz im Sinne der Ausstellung, als ich - endlich an den motorisierten Jalousien der Koreanerin Haegue Yang angelangt - umkehrte, ohne sie gesehen zu haben. So komisch es klingt, machte für mich das Nichtsehen von Haegue Yangs Werk die Stücke plötzlich erreichbar, die in Kabul, Kairo, ja sogar in Kanada ausgestellt waren. Denn alle hatten jetzt dieselbe Ebene von Unsichtbarkeit erreicht. Sicherlich war es also kein Zufall, dass sich nur ein paar Schritte entfernt von "Leaves of Grass" des kanadischen Künstlers Geoffrey Farmer - einer großartigen Collage von Schattenspielpuppen aus 50 Jahren des Life -Magazins - eine Ton-Installation befand. Die Kopfhörer aufsetzend hörte ich das Lied: "Die Gedanken sind frei!"

Der Kanadier John Lambert ist Final Editor der englischen iPad-Ausgabe des Monopol -Magazins. Er lebt in Berlin.

© SZ vom 12./13.01.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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