Machtkampf, auch unfairer, gehört zur Politik. Rösler gegen Westerwelle, Gabriel gegen Steinbrück, Kohl gegen Biedenkopf. Auch hierzulande landen Underdogs oft unsanft. Je nach öffentlichen Empfindungen wird entweder dem Sieger Haudegen-Manier attestiert, oder dem Verlierer, dieser könne nicht "gut" verlieren. Wer kennt das nicht? Dennoch mutet in den Augen vieler Deutscher der jüngste Machtkampf in China dubios, ja "exotisch" an. Der Underdog heißt Bo Xilai, Politbüromitglied und einer der roten Prinzen. Aber niemand kann genau seinen Gegner benennen. Premier Wen Jiabao könnte es genauso sein wie Parteichef Hu Jintao. Weitere kommen auch in Frage. Im Dunkel bleiben die Gründe für das erbarmungslose Hauen und Stechen. Wird Bo wegen seiner "maoistischen" Shows wie die "Rote-Lieder-Kampagne" abgesägt? Möglich. Es kann auch sein, dass sein gnadenloser Kampf gegen die Untergrundgesellschaft und Korruption ohne Rechtsstaat tragisch enden musste: Dreck am Stecken haben auch Mitglieder selbst der höchsten Führungsebene. Da lebt gefährlich, wer sich zu weit aus dem Fenster lehnt. Aber war es in Italien unter Andreotti so viel anders?
Dennoch wird ein Systemunterschied deutlich: Der Machtkampf in Europa bleibt dank freier Presse und Mehrparteien-Konkurrenz nie lange geheim. Infolge dessen verliert er schnell jede mystische Wirkung zur Massenbeunruhigung. Wer von Gabriel und Steinbrück die K-Frage für sich entscheidet, wird öffentlich diskutiert, bevor die SPD-Spitze sie sich überhaupt zu stellen wagt. Wer soll und wird "Kapitän" der FDP werden/bleiben? Die letzte Entscheidung mag hinter verschlossener Tür fallen. Aber die demokratische Gesellschaft wird durch die alltägliche Transparenz der Machtkämpfe mehr als vorgewarnt, manchmal immun.
Anders in einem autokratischen System wie in China. Apparatschiks wie Bo kennt kaum einer aus der Nähe. Ebenso wenig seine Gegner. Kaum einer kann mit Beweisen das Für oder das Wider zu nebulösen Positionen im Politbüro öffentlich begründen. Zudem hat die einzige Regierungspartei naturbedingt kein Interesse, sich als uneins zu präsentieren. Also wird tunlichst kaschiert, etwa mit Zensur und Bestrafungen, wo die Machthaber nur können. Wo sie nicht mehr können, etwa im Internet, brodelt die Gerüchteküche umso heftiger.
Und Chinas Massengesellschaft reagiert mystisch bis psychotisch: Was heißt, Bo Xilai wurde seines Amtes als KP-Chef der größten Stadt der Welt Chongqing enthoben - Beginn eines Palast-Putsches? Was heißt, der rote Prinz habe keine Chance mehr, ins mächtigste Machtgremium zu kommen - verschwinden auch im kommunistischen China die Maoisten ein für allemal von der historischen Bühne? Wer von den Militärs steckt hinter dem dreisten Politstar, wer fordert ihn heraus? Alles ist möglich. Nichts ist begründet. Nachvollziehbar tut sich nur eine Ungewissheit der Führung kund. Wenn sich aber die alleinige Führung selbst nicht mehr sicher ist, wie sicher dürfen sich die 1,3 Milliarden Geführten ihrer Zukunft sein?
Mag sein: In Europa schwelen, halb offen, halb gemunkelt, fast immer irgendwelche Machtkämpfe. Die Gesellschaft hierzulande bleibt dennoch stabil. In China wird lange jedweder Machtkampf geleugnet. Die zur Schau gestellte Mega-Stabilität beeindruckt viele China-Versteher hierzulande kolossal. Aber bei dem ersten Windstoß eines sichtbaren Machtkampfes ist die Stabilität dahin.
An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Shi Ming arbeitet als Freier Journalist und Publizist.